4K UHD. | Australien/Frankreich 1992 | 120 Minuten

Regie: Jane Campion

Neuseeland Mitte des 19. Jahrhunderts: Eine stumme Europäerin trifft mit ihrer Tochter bei ihrem unbekannten zukünftigen Ehemann ein, im Gepäck das geliebte Klavier, das bald zum Symbol der zunächst einseitig-begehrlichen, später von ihr erwiderten Leidenschaft eines Mannes in ihrer Nachbarschaft wird. In grandiosen (Sinn-)Bildern erzählte Parabel über die Selbstbefreiung und -findung einer Frau durch eine verbotene Liebesbeziehung. Vor allem die hervorragenden Schauspieler verleihen der Beschreibung des Prozesses Intensität, Dichte und Intimität. (Kinotipp der katholischen Filmkritik) - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
THE PIANO
Produktionsland
Australien/Frankreich
Produktionsjahr
1992
Produktionsfirma
Jan Chapman Prod./Ciby 2000
Regie
Jane Campion
Buch
Jane Campion
Kamera
Stuart Dryburgh
Musik
Michael Nyman
Schnitt
Veronika Jenet
Darsteller
Holly Hunter (Ada) · Harvey Keitel (Baines) · Sam Neill (Stewart) · Anna Paquin (Flora) · Kerry Walker (Tante Morag)
Länge
120 Minuten
Kinostart
16.06.2022
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
4K UHD. | Drama | Liebesfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Heimkino

DVD und BD enthalten eine Audiodeskription für Sehbehinderte. Die Extras umfassen u.a. einen Audiokommentar der Regisseurin Jane Campion und der Produzentin Jan Chapman. Die Premium Edition (DVD) und die BD enthalten zudem ein Werkstattgespräch mit Jane Campion & Jan Chapman (76 Min.). Die BD-und-4K-UHD-Edition in der Neuauflage (2022) vereint alle Extras mit dem hervorragend restaurierten Film und enthält zudem längere Interviews mit Kameramann Stuart Dryburgh (10 Min.), Setdesigner Andrew McAlpine (13 Min.) und Maori-Berater Waihoroi Shortland (14 Min.) sowie das Featurette "25 Jahre Das Piano" (31 Min.). Die 4K-UHD-(plus BD)-Edition ist mit dem Silberling 2022 ausgezeichnet.

Verleih DVD
Kinowelt/StudioCanal (16:9, 1.85:1, DD5.1 engl./dt.)
Verleih Blu-ray
StudioCanal (16:9, 1.85:1, dts-HDMA engl., DD2.0 dt.) 4K: StudioCanal (16:9, 1.85:1, dts-HDMA engl., PCM2.0 dt.)
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In grandiosen (Sinn-)Bildern erzählt Jane Campions Film, der 1993 in Cannes die „Goldene Palme“ errang, eine ungemein sinnliche Parabel über die Selbstbefreiung und -findung einer Frau

Diskussion

Ein Klavier, mit Brettern verkleidet, auf einem weiten dunklen Sandstrand, gegen den die riesigen, schäumenden Wogen des Ozeans anbranden: ein surrealistisches Tableau, das die Kleinheit der Artefakte, des Kulturprodukts abstechen läßt vom Ungeheuerlichen, Unaufhaltsamen, Überwältigenden ungezähmter Natur, eine Bildformel, die auf die Handlung vordeutet, auf das ungleiche Verhältnis zwischen gesellschaftlichen Regeln und der Macht der Leidenschaften.Ada, eine junge Frau, kommt Mitte des 19. Jahrhunderts nach Neuseeland, um dort einen ihr unbekannten Mann zu heiraten. Als junges Mädchen hat sie beschlossen, nicht mehr zu sprechen. Erstaunlich: sie hat eine neunjährige Tochter, Flora, von deren Vater man nichts erfährt. An einem menschenleeren Strand wird sie an Land gesetzt, mit ihrem Kind: zwei Gestrandete aus Europa, umgeben von wenigen Möbeln, darunter das Klavier. Da Ada sich der Sprache nicht bedienen will, hilft ihr das Piano, Gefühle auszudrücken - mehr für sich als für andere. Ihr künftiger Mann Stewart holt sie ab, in seiner Begleitung der Nachbar Baines und eingeborene Maoris. Ihr Weg ins neue Haus führt sie durch einen grünblauen, dunstverhangenen Wald, der Boden ist aufgeweicht, eine Schlammschicht, in dem die hochgeschnürten Schuhe versinken. Fast immer regnet es, oder es sieht so aus. Selten bricht Licht, ein wenig Sonne in diese Dämmerwelt ein, die Schauplatz ihres Lebens sein soll, eines Lebens in der Fremde, auch wenn es noch Kostüme und Riten, sogar das Theaterspiel gibt, die an die alte Welt erinnern. Da Ada ohne das Piano nicht existieren kann, bittet sie Baines, das am Strand zurückgelassene Klavier zu holen. Nach mürrischer Abwehr willigt Baines ein, mehr noch: er tauscht das Klavier bei Stewart gegen Land. Für Stewart, einen Pionier seiner Zeit, ist Grundbesitz wichtig, er will ihn urbar machen, was kümmert ihn ein Piano. Baines dagegen, der nicht lesen und schreiben kann, will, daß Ada ihm in seinem Haus Klavierstunden gibt. Zunächst sträubt sie sich, dann läßt sie sich darauf ein, sogar auf mehr noch. Denn Baines schlägt ihr einen unglaublichen Handel vor: sie mag bei ihm jeden Tag spielen, dafür darf er sie betrachten und Dinge mit ihr machen. So könne sie ihr Klavier zurückerwerben. Was für Dinge? Für den Gegenwert von schwarzen Tasten, deren Zahl sie jeweils ausfeilschen, soll sie den Rock hochheben, die Außenschale der sie eng umhüllenden vielschichtigen Kleidung Stück für Stück ablegen. So entschält sich aus dem leibhaftigen und schwarzen Korsett (so schwarz wie die schwarzen Tasten) eines sinnenfeindlichen Zwangsgefüges ein lebendiger, weißer (so weiß wie die weißen Tasten), weicher und weiblicher Körper. Ein äußerer und zugleich innerer Vorgang: Ada wird sichtbar. Der Film läßt die verletztliche, empfindliche, warme Nacktheit der Körper unter der düsteren, erstickenden Bemäntelung der Zivilisation wiederentdecken, nicht nur die schöne Nacktheit Adas, auch die von Baines. In einer Szene sieht man ihn, völlig unbekleidet, allein, um das Klavier herumstreichen und es betasten und beinahe sanft mit seinem Hemd abwischen, als hätte er Adas Körper vor sich. In einer anderen Szene hockt sich Ada nackt, eigentümlich sachlich, als gehe es nur darum, einen Vertrag zu erfüllen, auf das Bett, versucht, das wirre Laken zu glätten, gibt sich nicht hin, aber läßt mit sich geschehen. Ist sie so kühl im Herzen und tut alles, um das Klavier so schnell wie möglich zurückzugewinnen? Überwiegt diese Absicht ihr durch Zeit und Mode auferlegtes Schamgefühl oder zittert da doch ein wenig Lust am kühnen Spiel mit, das ihr Baines vorgeschlagen hat, am Abenteuerlichen der Situation oder gibt verheimlichte Liebe den Ausschlag? Am Ende ist es Liebe. Sie erwidert die Leidenschaft von Baines, auch sie begehrt, gibt sich hin, nimmt und geht dabei das größte Risiko ein: sie wagt nicht nur den Ehebruch, sondern im Widerspruch zu allen Normen ihres puritanischen Milieus zu handeln. Man muß Angst um Ada haben, denn sie verstößt gegen alle importierte Moral und gefährdet sich in ihrer Unbedingtheit. Sie wird verraten - von der eigenen Tochter, die sich (vorerst) auf die Seite des legalen Mannes Stewart schlägt. Den benutzt Ada als Ersatzliebesobjekt: seine Annäherungen zurückweisend, besichtigt sie ihn, streichelt ihn, zieht ihn aus, in einem durchaus einseitigen Akt der Zuwendung, ebenso wie sie die neben sich schlafende Tochter als Körper erspürt und sich an sie drängt. Selten hat man die alle Angst und Scheu vertreibende, wunderbare Besessenheit einer Liebenden so unvernebelt und wahrhaftig dargestellt gesehen.Übrigens ist die Wahl des Liebhabers Baines nicht unverständlich: ein scheinbar ruppiger Außenseiter, der unzugehörig zwischen seiner anerzogenen weißen Kultur und der der Maoris lebt. Die Eingeborenen bevölkern seinen Bereich, während sie die Zone von Stewart mit Mißmut umlagern oder gar stören, sie lagern auf Baines Veranda, eine einheimische Frau teilt manchmal das Bett mit ihm. Als er noch nicht weiß, daß Ada ihn ebenso liebt, drängt er sie aus dem Haus, denn er will sie weder zur Hure noch sich selbst ganz unglücklich machen, sehnt er sich doch nach ihrer Leidenschaft. Sein Bekenntnis ist geradlinig, ehrlich, sicher nicht höflich verkleidet: eher die Wahrheit eines Unbehausten als die eines Ansiedlers. Eifersucht und gekränktes Selbstgefühl verschonen nicht den legalen Ehemann.Stewart ist in einer beklagenswerten Lage. Er soll abwarten, auf Adas Sympathie hoffen, raten ihm Familienmitglieder, geduldig sein. Und er ist es, brav, kein gewaltsamer Herr im Haus. Als er Zeuge einer Liebesumarmung zwischen Baines und Ada wird, erspäht, erlauscht durch die Lücken in den brüchigen Wänden der ziemlich provisorisch oder ruiniert wirkenden Hütte von Baines (die eben nicht dazu geschaffen ist, um sich für immer in ihr niederzulassen), besteht für Stewart kein Zweifel mehr. Er ist hilflos. In einem Anfall von Verzweiflung und ohnmächtigem Zorn hackt er Ada, der Pianistin, das Glied eines Fingers an der rechten Hand ab. Und ist doch schließlich mutig und ehrenhaft genug, seine Frau an der Seite des anderen Mannes gehen zu lassen. Mit dem ungefügen Klavier begeben sich Ada, Flora und Baines vom Strand aus auf die Weite des Meeres. Das kanuartige Schiff schwankt beängstigend unter der schweren Last. Da gebietet Ada, das Piano über Bord zu werfen. Als es geschieht, verwickelt sich ein Seil, das am Klavier befestigt ist, um ihren Fuß und zieht sie mit ins Wasser hinein. Zuerst läßt sie sich sinken, die Kamera bleibt bei ihr, dann strampelt sie den Schuh und das Seil ab und kehrt zurück an die Oberfläche, durchbricht den Wasserspiegel (slow motion, Blick von oben) wie eine gläserne Wand, die sie bis dahin von einer anderen befreiten Existenz zurückgehalten hat: eine Neugeburt. Abschließend sieht man sie auf einer Veranda hin- und hergehen, sprechen lernend, in Gegenwart des Geliebten. Als sie ein schwarzes Tuch, das sie verhüllt hat, von ihrem Kopf abstreift, zeigt sich das einst umdüsterte Gesicht gelöst.Was für eine romantische Fabel oder Parabel, die vom dürren eingeschnürten Dasein über das Erlebnis der alles umwälzenden Liebe zum glücklichen Ausweg führt! Eine Geschichte von der radikalen und erfolgreichen Revolution des Gefühls gegen lähmende Verhältnisse, vom Triumph der Liebesleidenschaft und der möglichen Metamorphose zu einem anderen Leben, vom Konflikt zwischen der Disziplin der weißen Kultur und dem Außersichsein, der Rückkehr zur wilden Natur - all dies ist hier zu rinden, nur keine Anzeichen eines nostalgischen Kostümfilms. Es fehlen die Kategorien von Gut und Böse. Man begegnet Menschen mit bestimmten zivilisatorischen Prägungen, die nicht ausreichen, um das Außerordentliche und Unfaßliche der Liebe zu vermeiden oder zu ertragen. Nirgends hat diese Erzählung etwas Glatt-Gefälliges. Ada selbst entspricht nicht solchen Vorstellungen. Holly Hunter erscheint erst allmählich betörend. Die glatten dunklen Haare sind, in der Mitte streng gescheitelt, das fast herbe Gesicht läßt seine weicheren Züge erst mit der Zeit erkennen, die Augen wirken anfangs abwehrend und dann doch unglaublich sanft, tief, die rigide entschlossene Art ihrer energischen Gebärdensprache, mit deren Hilfe sie sich über ihren Dolmetscher, ihre Tochter, mit der Außenwelt verständigt, setzt sich in der Wortwahl des Kindes fort. Ada scheint eine vom Leben gezeichnete, doch starke und spröde Person zu sein. Ihre Verwandlung zur stumm-geduldigen Spielerin und erotisch vibrierenden Frau ist bezwingend, bewegend, anrührend.Alle Komponenten wirken zusammen, damit atmosphärische Dichte, Intimität mit den Personen und ihren Verwicklungen und ein suggestiver Fluß der Erzählung entstehen. Buch und Regie von Jane Campion erspüren und versinnlichen hinter dem scheinbar historisch Abgelebten das Vertraute und immer dunkle Unbekannte, Beängstigende und Aufwühlende des kaum steuerbaren Unbewußten, die Zeichen und Symptome, die den Aufruhr oder Ausbruch des Begehrens ankündigen und begleiten. Mit welcher Intensität die Schauspieler diesen analytischen Prozeß der Selbsterkennung und Selbstfindung verlebendigen, ist bewundernswürdig (in kaum verantwortbarer Kürze gesagt). Die Kamera fängt symbolische Bilder von traumhafter Prägnanz ein, beobachtet die Handlungen der Personen aus der Nähe, aus halber Höhe, einfühlsam, nicht aufdringlich, bald verstrickt in die Heimlichkeiten der Liebenden. Die Musik beweist ihre Qualität dadurch, daß sie nicht demonstrativ zur Ausdruckskurve des Innenlebens von Ada wird, sondern distanziert, auch leicht verrätselt, genau hinzuhören zwingt.

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