Dokumentarfilm | Schweiz/Deutschland 2002 | 90 Minuten

Regie: Werner Schweizer

Porträt des Jagdfliegers Franz von Werra, der im Dritten Reich als Ritterkreuzträger und mediengewandter Selbstdarsteller Furore machte. Der Dokumentarfilm bricht den Heldenmythos mehrfach, weil er die Widersprüche überlieferter "Wahrheiten" augenfällig macht und die Vordergründigkeit historischer Erinnerungen thematisiert. Das Ergebnis ist das Bild eines gebrochenen Helden, dessen Persönlichkeitsstruktur aus einer beklemmenden Familienchronik rekonstruiert wird. Ein beispielhafter Dokumentarfilm, der durch seine Leerstellen zu Nachfragen ermutigt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
VON WERRA
Produktionsland
Schweiz/Deutschland
Produktionsjahr
2002
Produktionsfirma
Dschoint Ventschr/Lichtblick
Regie
Werner Schweizer
Buch
Werner Schweizer · Wilfried Meichtry · Martin Witz
Kamera
Pio Corradi · Werner Schweizer · Felix von Muralt
Schnitt
Kathrin Plüss
Darsteller
Hardy Krüger
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Er war ein früher Popstar der Nazi-Propaganda, sein Leben ein Stoff, aus dem Filme entstehen: Franz von Werra, Jagdpilot der deutschen Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg, Draufgänger und Abenteurer, Ritterkreuzträger und mediengewandter Selbstdarsteller, der mit seinem Maskottchen Sima, einem jungen Löwen, vor den Kameras posierte. Furore machte der „fliegende Baron“ aber erst als Ausbrecherkönig – als einziger Deutscher, der je aus einem britischen Lager fliehen konnte. Nach einer Bruchlandung 1940 in die Kriegsgefangenschaft geraten, gelang ihm beim dritten Versuch eine spektakuläre Flucht über Kanada, die (noch neutralen) USA und Südamerika, die im Januar 1941 weltweit für Schlagzeilen sorgte: Bei Eiseskälte aus einem fahrenden Zug gesprungen, erreichte er halb erfroren die amerikanische Grenze, von wo er sich nach New York durchschlug, abermals zum Medienstar avancierte und über Rio de Janeiro, Spanien und Rom zu seinem Geschwader zurückkehrte; daheim wurde er triumphal begrüßt und von Hitler persönlich empfangen. Ein Propaganda-Coup für Goebbels, der von Werra einen Tatsachenbericht über seine Flucht schreiben ließ, der allerdings niemals erschien – Gerüchten zufolge, weil der Kriegsheld sich darin allzu begeistert über die Engländer und Amerikaner ausließ.

Ein Leben an der Nahtstelle zwischen Realität und Fiktion. Ein Kriegsmythos in Deutschland wie in England. Zumal von Werra noch im selben Jahr, 27- jährig, bei einem mysteriösen Flugzeugabsturz ums Leben kam, was die Fantasie der Briten beflügelte, die in der Nachkriegszeit entschieden zur Legendenbildung um seine Person beitrugen: zuerst mit einem Buch, 1957 dann mit dem gleichnamigen Spielfilm von Roy Baker „The One That Got Away“ („Einer kam durch“, fd 6476), der dem Wagemut des deutschen Oberleutnants Respekt zollte und die internationale Schauspielkarriere von Hardy Krüger einleitete. Die Schrecken des Krieges kamen in dem Abenteuerfilm freilich nicht vor, geschweige denn Nazi-Gräuel. Eine Wette unter Offizieren und Gentlemen sowie die charismatische Identifikationsfigur des jungen Kampffliegers dienten im Kalten Krieg der militärischen Rehabilitierung eines NATO-Partners – mit einem in Deutschland willkommenen Nebeneffekt: taugte doch der Fliegerheld zum Vorbild, um dem Mythos der „sauberen“ Wehrmacht Vorschub zu leisten. Ein Szenario, das die ambivalente Vita des deklassierten Aristokraten aussparte: seine Begeisterung für den Nationalsozialismus, in dem er ein Vehikel zum gesellschaftlichen Wiederaufstieg sah, seine traumatische Kindheit und die daraus resultierende ungewöhnlich enge Beziehung zu seiner Schwester Emma, sein Elite- Bewusstsein mitsamt des Hangs zur Selbstinszenierung, seinen atavistischen Standesdünkeln, die ihn den Krieg als eine Art sportliche Auseinandersetzung begreifen ließen.

Bis heute erfüllt jene „Ehrenrettung des deutschen Offiziers“ in dem Film, der sein Image des Draufgängers begründete, von Werras Alter ego, den 14 Jahre jüngeren Hardy Krüger, mit Unbehagen. Zugleich weist die Biografie des „Weltenbummlers“, der sich mit seinen Afrika-Expeditionen den Traum des Sima- Besitzers erfüllt hat, erstaunliche Parallelen mit der Geschichte des historischen Originals auf. Ausgehend vom Spielfilm „Einer kam durch“ begibt sich Werner Schweizer zusammen mit dem Star des deutschen Nachkriegsfilms auf die Spurensuche nach dem Mann hinter dem Mythos. Seit „Noel Field – Der erfundene Spion“ (fd 32 526) ist dies eine Spezialität des schweizerischen Dokumentaristen, der abermals sein Gespür für die Vordergründigkeit historischer Überlieferung beweist, für die politische Legendenbildung wie Ambiguität einer mit Widersprüchen behafteten „Wahrheit“, die je nach Wissensstand, strategischer Interessenlage, persönlicher Betroffenheit oder ideologischem Standpunkt zu anderen, nicht selten konträren Wahrheitskonstruktionen führt. Im Fall der schwer fassbaren Biografie Franz von Werras konnte dies nur bedeuten, sich seiner schillernden Persönlichkeit an Hand der medialen Rezeption, der Propaganda-Bilder und der Aussagen noch lebender Augenzeugen aus mehreren Perspektiven anzunähern, zumal nicht nur der unaufgeklärte Tod, sondern auch seine Herkunft Anlass zu Spekulationen liefern.

Im Mittelpunkt des Films stehen die Korrespondenz und die Beziehung der Geschwister von Werra: Franz, Kosename „Moritz“, und seine Schwester Emma, Kosename „Buschi“, waren Kinder eines verarmten Barons aus Leuk im Schweizer Kanton Wallis und wurden früh zur Adaption freigegeben. Gerüchten zufolge sollen sie an ein kinderloses deutsches Ehepaar verkauft worden sein. Auch die standesgemäße Adoptivfamilie zerbrach, als Baronin von Haber erkannte, dass ihr Mann, ein preußischer Major a.D., ihr ganzes Vermögen verschleudert und zudem jahrelang seine Adoptivtochter sexuell missbraucht hatte. Der finanzielle Ruin des Adelshauses bedeutete für die Geschwister 1932 den zweiten Zusammenbruch ihres Lebenszusammenhangs. Mit (geschlechterspezifisch) unterschiedlichen Folgen: Während Franz die Flucht nach vorne, „in die Erlebnis- und Abenteuerwelt“ ergriff, suchte Emma den Schutz ihrer ursprünglichen Familie in Leuk, fand Zuflucht in der Religion und trat schließlich einem Laienorden bei. Die gemeinsame Begeisterung für den Nationalsozialismus hatte mit ihrer Suche nach Identität, mit der Kompensation einer sozialen Deklassierung zu tun, die sie zur Verliererin der kapitalistischen Modernisierung degradierte. Diese beklemmende Familienchronik ergänzen Aussagen der ehemaligen Jagdflieger und Kameraden, die bis heute ihrer Faszination für die Fliegerei und einem Kampfgeist huldigen, der viel über Männerfantasien, aber wenig über die Realität des Krieges verrät. Wie die Familiengeschichte von Werras spiegeln sie, zwiespältig und aufschlussreich zugleich, den rauschhaften Aufstieg eines totalitären Systems und offenbaren die mentale Disposition einer Generation, die den propagandistischen Heldensagen nacheiferte, getreu dem Motto: „Der Traum des Fliegens ist alleine tausend Leben wert.“

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