- | USA 2003 | 88 Minuten

Regie: Jonathan Caouette

Aus Found Footage, Video-Tagebüchern und Schnipseln anderer Filme rekonstruiert der Dokumentarfilm das Leben des Filmemachers Jonathan Caouette, das von einer traumatischen Kindheit sowie einer trotz schrecklicher Erfahrungen nie verlorenen Liebe zur psychisch kranken Mutter geprägt ist. Der virtuose montierte Film verlangt dem Zuschauer viel ab, belohnt aber mit vielschichtigen Einblicken in eine verletzte Psyche und deren Selbsttherapie mit Hilfe des Films sowie mit einer Familiengeschichte, wie sie eindringlicher kaum erzählt werden kann. Ein fast an David Lynch erinnernder Blick auf die amerikanische Gesellschaft. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
TARNATION
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2003
Produktionsfirma
Caouette-Winter
Regie
Jonathan Caouette
Buch
Jonathan Caouette
Kamera
Jonathan Caouette
Musik
John Califra · Max Avery Lichtenstein · Stephin Merritt
Schnitt
Jonathan Caouette · Brian A. Kates
Länge
88 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Arsenal (FF, DD2.0 engl.)
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Diskussion
Der Junge kreischt hysterisch in die Videokamera, die er irgendwo in der Nähe seiner Zimmertür aufgebaut hat, rollt die Augen, wirft den Kopf hin und her, lässt ihn feminin in den Nacken fallen; sein Körper zittert, vibriert in der Rolle der misshandelten Frau, die er sich selbst auferlegt hat, die ihn zwingt, direkt in die Kamera zu heulen, als wäre sie lebendig und könne ihn, den kleinen Jungen, und sie, die Frau, die er spielt, vor den unsichtbaren Peinigern bewahren, die hinter beiden her sind. Jonathan Caouette war elf Jahre alt, als er dieses intensive, verstörende Rollenspiel improvisierte und sich in Gestalt seiner Mutter Renee selbst inszenierte. Schon damals war die Kamera aus dem Leben des späteren Regisseurs nicht mehr wegzudenken. Bereits als kleines Kind zog sich Caouette aus der unkontrollierbaren, beängstigenden Wirklichkeit seines zerrütteten Zuhauses in die übersichtliche Welt des Films zurück. Anfangs im Kino und später im Fernsehen saugte er die dramaturgisch klar strukturierten Lebensentwürfen begierig in sich auf. Weil er keinen Videorekorder hatte, schnitt er den Ton der Filme auf einem Bandgerät mit, um das Gesehene später vor seinem inneren Auge rekonstruieren zu können. Die Welt um ihn herum verwandelte sich allmählich in ein einziges großes Set, und sobald er die erste Videokamera in seinen Händen hielt, begann er sein eigenes Leben in Film zu verwandeln: mit sich selbst als Regisseur und Hauptdarsteller. Die Dreharbeiten dauerten über zwanzig Jahre. Es erstaunt deshalb nicht, dass „Tarnation“ in einer frühen Schnittfassung fast drei Stunden lang war. Für seine Premiere auf dem Sundance-Filmfestival 2004 wurde er dann auf 88 Minunten heruntergekürzt, 88 magische, berauschende und schockierende Minuten, denen sich auszusetzen mit einem Meilenstein der Kinogeschichte belohnt wird. Die Tür in ein neues Zeitalter des Dokumentarfilms, die „Capturing the Friedmans“ (2003) bereits öffnete, indem exzessiv Home-Movie-Material verwendet wurde, stößt Caouette nun endgültig auf. Seine Dokumentation setzt sich fast ausschließlich aus Found Footage zusammen: Private Home-Videos, Super-8-Filme, Videotagebücher, Ausschnitte aus den ersten experimentellen Kurzfilmen des Regisseurs, Horrorstreifen, Splatterfilme, Aufnahmen auf VHS, Hi-8, Mini-DV und Betamax, auf Anrufbeantwortern hinterlassene Nachrichten und Schnipsel aus Songs, Popvideos und Filmen der 1980er-Jahre. Die dramaturgischen Lücken, die sich bei der Montage des vielfältigen Fremdmaterials ergeben, werden durch Texteinspielungen geschlossen. Was auf den ersten Blick als ein genialer, radikaler Kunstgriff erscheinen mag, ist in Wirklichkeit jedoch viel mehr. Der Regisseur erzählt seine Lebensgeschichte nicht freiwillig, sondern er tut dies, weil er nicht anders kann: Ich filme, also bin ich. Caouette leidet an einer Persönlichkeitsstörung, die sein Realitätsempfinden beeinflusst. Wie einen Traum nimmt er die Welt um sich wahr; sein Leben und sich selbst betrachtet er immer gleichzeitig auch wie von außen. Die Kamera, so betont er, diente ihm in seiner Kindheit weniger zur Flucht vor den schwer erträglichen Zuständen, sondern als therapeutisches Instrument, mit dessen Hilfe er das Erlebte verarbeitete und sich selbst in die Wirklichkeit einschrieb. „Tarnation“ ist damit mehr als eine Autobiografie, er ist das einzigartige Dokument eines fortwährenden seelischen Heilungsprozesses, einer konsequenten Selbst(er)findung. Nur durch den pathologischen Sammel- und Aufzeichnungszwang, die unentwegte kulturelle und persönliche Spurensuche Caouettes wurde das cineastische Wunder möglich, das mit technisch ausgefeilteren Mitteln an keiner Stelle hätte besser gemacht werden können. Das menschliche Wunder aber, von dem der Film erzählt, ist weitaus beachtlicher: bis heute und trotz einer alptraumhaften Kindheit hat sich der Regisseur die Liebe zu seiner psychisch kranken Mutter bewahrt. Persönlicher, mit intimerem Blick lässt sich eine Familiengeschichte kaum erzählen. Gleichzeitig aber führt Caouettes Zwang, sich seiner selbst im Spiegel der Außenwelt zu versichern, dazu, dass der Regisseur genauso zwangsläufig ein eindringliches Sittenbild des Landes mitliefert, in dem er aufgewachsen ist. „Tarnation“ wird so zum Höllentrip von Lynchscher Dimension, der hinter die Fassaden des amerikanischen Traumes mitten ins kranke Herz der US-Gesellschaft führt: zur amerikanischen Familie. Anfangs erscheint alles wie ein romantisches amerikanisches Märchen. Im Scrolltext ist zu lesen, wie Caouettes Großeltern sich kennen lernten und in einen Vorort von Houston zogen: ein glücklich verliebtes Paar. Ihre Tochter Renee entwickelt sich bezaubernd, wird Kindermodell. Dann aber fällt sie als 12-Jährige beim Spielen vom Dach, was eine vorübergehende Lähmung zur Folge hat. Auf Anraten der Ärzte wird sie über Jahre hinweg einer grausamen Elektroschocktherapie unterzogen. Die brutale Behandlung führt zu einer schweren psychischen Erkrankung. Früh wird Renee mit Jonathan schwanger; der Vater, ein Handlungsreisender, zieht bald weiter. Jonathan leidet unter der labilen, manisch-depressiven Mutter und den überforderten Großeltern. Als kleiner Junge muss er hilflos mit ansehen, wie Renee vergewaltigt wird. Als Teenager entdeckt er seine Homosexualität, verzweifelt an deren Stigmatisierung. Sobald wie möglich flieht er aus der unerträglichen Enge seines Zuhauses nach New York. Dort lebt er heute mit seinem Partner, doch den Kontakt zu seiner Mutter hat er nie abreißen lassen. Ein Jahr vor der Fertigstellung von „Tarnation“ erfährt Caouette, dass seine Mutter eine Überdosis Lithtium zu sich genommen hatte. Wieder reist er nach Texas, konfrontiert sich mit seiner Vergangenheit, Renees Anschuldigungen gegen ihre Eltern, deren Unverständnis. Schließlich nimmt er seine Mutter mit nach New York. Damit endet der Film. Caouettes Geschichte aber erzählt das Leben weiter, beziehungsweise das, was er mit Hilfe der Kamera in sein Leben verwandelt.
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