Coca: Die Taube aus Tschetschenien

Dokumentarfilm | Schweiz 2005 | 86 Minuten

Regie: Eric Bergkraut

Dokumentarfilm über Frauen aus Tschetschenien, die mit einer Digitalkamera die Verbrechen an der Zivilbevölkerung protokollieren. Vor allem Zainap Gaschajewa filmt die Folgen russischer Angriffe und befragt Betroffene nach ihren Schicksalen. Ein ehrenwerter Versuch der Bestandsaufnahme zehn Jahre nach Kriegsbeginn. Leider untergraben die dramaturgische Dichte und der Drang nach möglichst panoramaartigen Informationen die emotionale Kraft des Films. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
COCA: DIE TAUBE AUS TSCHETSCHENIEN
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Accent Films/Doc Prod./SF-DRS/SRG-SSR/arte/YLE
Regie
Eric Bergkraut
Buch
Eric Bergkraut
Kamera
Laurent Stoop
Musik
Marie-Jeanne Serero
Schnitt
Mireille Abramovici
Länge
86 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Irgendwo in Tschetschenien. Ein von Granatfeuer schwer verletzter Junge krümmt sich am Boden. Mit einer Digitalkamera nimmt Zainap Gaschajewa das Sterben des Kindes auf: „Es ist schwierig, damit zu leben“, sagt sie, „aber es zu vergessen ist unmöglich.“ Die frühere Geschäftsfrau hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Gräuel des Krieges und die Verbrechen an der Zivilbevölkerung zu dokumentieren. In Russland ist das ein Sakrileg und kommt einer Verschwörung gleich: Deshalb lagern Zainaps Videobänder versteckt in Kellern und hinter Mauern; sie aus dem Land zu schmuggeln, bedarf es gleichsam geheimbündlerischer Aktionen. Draußen aber, in der Welt, interessiert sich kaum noch jemand dafür, dass von rund einer Million Tschetschenen seit 1994 bis zu 300 000 Menschen, darunter 35 000 Kinder, getötet wurden. Dass Zehntausende spurlos verschwanden. Und dass der Genozid an einem Volk, das Unabhängigkeit beansprucht, von der „großen Politik “ verdrängt und verschwiegen wird. In seinem Porträtfilm „Coca – die Taube aus Tschetschenien“ skizziert Eric Bergkraut den Alltag von Zainap Gaschajewa, begleitet sie zu Gesprächen mit Betroffenen, zitiert eindrucksvolle Passagen aus ihrem Zeitzeugenarchiv. Er vermittelt, welchen Mut die Frau hat und wie stark ihre Gegner sind. Einmal, während einer internationalen Konferenz, interviewt Bergkraut den russischen Justizminister und Leiter der russischen Delegation vor dem UNO-Ausschuss für Menschenrechte, den er bittet, den Tschetschenien-Konflikt in wenigen Sätzen zu umreißen. Der Minister stutzt und erklärt dann, dass er dafür keine drei Sätze, sondern nur zwei Worte brauche: „Internationaler Terrorismus“. Das Totschlag-Argument für alle, die an einer Analyse der Kriegsursachen und der Eskalation des Konflikts nicht interessiert sind. Ein ganzes Volk als Terroristen zu stigmatisieren, bedeutet, zumal im demokratisch instabilen Russland, einen Freibrief für fast alles. Auch dafür, dass selbst gegen unschuldige Frauen und Kinder ohne Erbarmen vorgegangen werden kann. Neben Zainap Gaschajewa kommen auch andere Gegner der russischen Tschetschenien-Politik zu Wort: Menschenrechtlerinnen; eine Moskauer Journalistin, auf die ein Giftanschlag verübt wurde, als sie beim Geiseldrama von Beslan zu vermitteln versuchte; oder ein schweizerischer Pfarrer, der Geld unter anderem für Flüchtlingslager sammelt. Ein anderer politischer Aktivist, Schweizer Nationalrat und Tschetschenien-Beauftragter des Europarates, artikuliert seinen Zorn: „Es ist unwürdig für Westeuropa, dass sich Staatsherren – und vielleicht sind es tatsächlich eher Herren als Staatsmänner – mehr um Geschäfte mit Putin kümmern als um die Menschen in Tschetschenien.“ Wie heftig die russische Regierung das Bild eines im Grunde völlig zerstörten und gedemütigten Landes zu schönen sucht, belegt Bergkraut mit Szenen einer offiziellen Pressereise für ausländische Kamerateams: Hier wird beschwichtigt und gelogen; vor der Kamera ertappt sich einer der Erklärer sogar selbst bei einer Märchengeschichte. „Coca – die Taube aus Tschetschenien“ ist ein ehrenwerter Film. Wirklich stark ist er leider nicht geworden. Das liegt vor allem an der mangelnden dramaturgischen Dichte: Im Bestreben, möglichst viel von internationalen, gerade auch Schweizer Aktivitäten gegen den Tschetschenien-Krieg zu benennen, wird die Hauptfigur Zainap immer wieder verlassen; der Film pendelt unschlüssig zwischen Porträt und Reportage, versucht den Panoramablick, wo Konzentration vermutlich ein stärkeres, auch emotional bewegenderes Resultat hervorgebracht hätte. Als Beispiel für Bergkrauts Tendenz, immer noch mehr Informationen unterzubringen und dann doch nur an der Oberfläche einer Nachrichtensendung zu bleiben, sei hier nur der Umgang mit der Kadyrow-Familie erwähnt, die zunächst zu den erbitterten Feinden Russlands zählte und später von Putin als Statthalter Moskaus in Tschetschenien eingesetzt wurde. Solche diplomatischen Winkelzüge des Kreml wären eine eigene Recherche wert. In „Coca“ nehmen sie sich, jedenfalls so, wie der Film gebaut ist, wie ein Fremdkörper aus.
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