„Und es war Sommer!“ Wenn man Andreas Dresens Film nach einem Drehbuch von Wolfgang Kohlhaase (u.a., in diesem Zusammenhang aber besonders wichtig, „Solo Sunny“, fd 22 397) gesehen hat, drängt sich eine Texteröffnung mit Peter Maffay gewissermaßen auf. Denn „Sommer vorm Balkon“ spielt (auch) auf eine fast schon abenteuerliche Weise mit dem die Realität überhöhenden oder zumindest kommentierenden Potenzial des deutschsprachigen Schlagers der 1970er-Jahre, wobei nie als ganz ausgemacht gelten kann, auf welcher Erzählebene des Films die Schlager ihre Funktion zugewiesen bekommen. Der Film ist in der Gegenwart angesiedelt, scheint sich durch die fast zwanghafte Präsenz der Stimmen von Costa Cordalis („Anita“), Marianne Rosenberg („Er gehört zu mir“), Cindy & Bert („Immer wieder Sonntags“) oder auch Hoffmann & Hoffmann („Himbeereis zum Frühstück“) aber der Vergangenheit zu öffnen, da sich durch den Soundtrack ein Riss im erzählten Kontinuum andeutet. Teilweise kommentiert die präzise ausgewählte Musik eine Szene, indem ein ironischer Akzent gesetzt wird, teilweise werden Bewusstseinslagen der Figuren dadurch charakterisiert. Als Grundstruktur, die dem Erzählen den Takt vorgibt, fungiert Nana Mouskouris „Guten Morgen, Sonnenschein!“, ein Song, der jedem morgendlichen Kamerablick über die Dächer des Prenzlauer Berges unterlegt ist – ohne Rücksicht auf das, was zuvor geschah oder danach geschehen wird. Hier ist jedes Morgengrauen eine neue Chance. Hier kann es eigentlich nur besser werden.
„Sommer vorm Balkon“ beginnt und endet auf dem Balkon, erzählt aber von den Dingen, die sich „vorm Balkon“ ereignen. Die Freundinnen Nike und Katrin sitzen des nachts gern auf dem Balkon von Nikes Wohnung, trinken etwas zu viel und treiben beispielsweise unbeschwerten Schabernack mit dem gegenüber arbeitenden Apotheker. Das sind Momente des Glücks! Nike und Katrin sind nicht mehr ganz jung; sie haben bereits reichlich Lebenserfahrung gesammelt und versuchen, sich auf verschiedene Weise und mit unterschiedlichem Geschick durchs Leben zu schlagen und dabei ihre Würde nach Möglichkeit nicht zu verlieren. Während die toughe Nike mit großem Engagement einem schlecht bezahlten Job in der Altenpflege nachgeht, ist die Schaufensterdekorateurin Katrin arbeitslos. Beide Frauen sind auf der Suche nach einem Partner; die geschiedene Katrin ist zudem allein erziehende Mutter von Max. Damit sind die Eckpfeiler benannt, aus denen sich „Sommer vorm Balkon“ mit erstaunlicher Leichtigkeit entwickelt. Vom Alltag dreier Generationen erzählt Dresen mit einem warmen Humor, ohne jedoch dabei auftretende Krisen und Konflikte mit der gebotenen Ernsthaftigkeit zu unterspielen. Diese schwerelose Balance zwischen Komödie und Tragödie verschafft dem Film einen Hauch von poetischem Realismus, dem es zudem gelingt, präzise Bilder vom deutschen Alltag zu zeichnen, in dem Momente instinktiver Solidarität gegen den Zerfall des Sozialen stehen. Dresen findet dafür die Formulierung, dass „Sommer vorm Balkon“ den „Übergang vom Sozialstaat zum Individualstaat“ beschreibe. Man kann durchaus davon sprechen, dass der Film eine lichtere Variante des thematisch verwandten „L’enfant“
(fd 37 333) der Brüder Dardenne ist.
Dresen verschafft sich durch das gewählte Erzählverfahren souverän die Freiheit, die Tonlage des Films gleich mehrfach zu variieren, wobei er sich auf herausragende Darsteller verlassen kann. Wenn sich die robuste Nike in den auf etwas stoffelige Weise ausgesprochen selbstbewussten Ronald verliebt, dann rückt die Beziehung zwischen den Freundinnen in den Hintergrund. Für die Rolle des mysteriösen Truckers konnte Dresen Andreas Schmidt gewinnen, in dessen reduziertem Spiel immer die Erinnerung an seine Rolle in Eoin Moores „Pigs Will Fly“
(fd 35 759) mitschwingt, was der Figur eine eindrucksvolle Komplexität verleiht. Ebenso verhält es sich mit Katrins Alkoholsucht, die der Film wie nebenher entwickelt. Alkohol ist hier ganz selbstverständlich im Alltag präsent, was zunächst gar nicht auffällt. Erst, als Katrin von einer Zufallsbekanntschaft fast vergewaltigt wird, betrinkt sie sich hemmungslos und muss mit einer Alkoholvergiftung ins Krankenhaus gebracht werden. Dort stellt sich heraus, dass Katrins regelmäßigem Alkoholkonsum therapeutisch begegnet werden muss. Währenddessen kümmert sich Nike um Max, der sich in diesem Sommer erstmals verliebt hat.
Dresens offenes Erzählverfahren lässt auch den Nebenfiguren hinreichend Raum, um weitere Geschichten – in der Musik würde man von „Klangfarben“ sprechen – so weit zu entwickeln, dass dem Zuschauer als Flaneur immer wieder neue, teilweise auch rein dokumentarische Blicke aufs Geschehen angeboten werden. So pflegt Nike die alte Dame Helene, der sie immer Liebesgeschichten aus Groschenheften vorliest. Diese „kitschigen“ Geschichten erinnern Helene an ihre eigene Liebesgeschichte mit ihrem verstorbenen Mann. Allerdings wird Nike für diese menschliche Geste nicht bezahlt, worauf sie von Helenes Tochter mehrfach hingewiesen und wofür sie von ihrer Vorgesetzten nachdrücklich abgemahnt wird. Die Bewertung der Tochter-Figur stellt sich rasch ein, doch Dresen benötigt nur eine kleine routinehafte Streitszene zwischen Mutter und Tochter, um dieser Nebenhandlung die entscheidende Nuance hinzuzufügen, die das scheinbar kalte Verhalten der Tochter plausibel macht und ein vorschnelles Urteil in Frage stellt. So gelingt „Sommer vorm Balkon“ auf denkbar unspektakuläre Weise Spektakuläres: Der Film fängt Alltagsrealität ein, erzählt auf sehr empathische Weise von Hoffnungen und Enttäuschungen, von Liebe und Verlust, vom Leben und auch vom Sterben. Verengt man seine Perspektive aufs streng Dichotomische, dann erzählt der Film stringent zwei sehr unterschiedliche Geschichten: eine von Liebe, Freundschaft und Solidarität, eine andere von Enttäuschung, Arbeitslosigkeit, Gewalt und Einsamkeit. „Sommer vorm Balkon“ wählt die Vermittlung beider Seiten, folgt seinen Figuren mit Interesse und einem Gespür fürs Komische durch einen Alltag, der die Figuren atemlos macht oder endlosen Leerlauf bietet. Denkt man all diese Widersprüche zusammen, erhält man ein komplexes Gewebe, das in der Summe den Kontingenzen ähnelt, die man gerne „das Leben“ nennt. Daraus einen letztlich hoffnungsvollen Film zu schaffen, der sein Publikum und seine Figuren nicht betrügt, ist das Verdienst und das Talent Andreas Dresens, dessen Œuvre sich Film für Film mehr zu einem Baukasten über das abenteuerliche „Leben BRD“ entwickelt.