Gabrielle - Liebe meines Lebens

Drama | Frankreich/Italien/Deutschland 2005 | 90 Minuten

Regie: Patrice Chéreau

Das Ende einer Geschäftsreise leitet für einen gut situierten Bürger der Pariser Gesellschaft zu Beginn des 20. Jahrhunderts auch das Ende seiner Ehe ein. Er muss zur Kenntnis nehmen, dass seine Frau ihn schon längst verlassen hat. Der Versuch, den schönen Schein der Ehe wieder herzustellen, ist zum Scheitern verurteilt. Hervorragend gespieltes artifizielles Ehedrama in eigenwilliger, betont theatralischer Inszenierung, das den Selbstbetrug einer sozialen Schicht entlarvt und den Masochismus einer Gesellschaft aufzeigt, die sich die eigenen Gefühle nicht eingesteht. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
GABRIELLE
Produktionsland
Frankreich/Italien/Deutschland
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Azor Films/Arte France Cinéma/Studio Canal/Love Streams Prod./Albachiara/Network Movie
Regie
Patrice Chéreau
Buch
Patrice Chéreau · Anne-Louise Trividic
Kamera
Eric Gautier
Musik
Fabio Vacchi
Schnitt
François Gédigier
Darsteller
Isabelle Huppert (Gabrielle Hervey) · Pascal Greggory (Jean Hervey) · Claudia Coli (Yvonne) · Thierry Hancisse (Chefredakteur) · Chantal Neuwirth (Madeleine)
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Concorde/Eurovideo (16:9, 2.35:1, DD5.1 frz./dt., dts dt.)
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Diskussion
Es dauert lange, bis die Kammerzofe alle Lichter im weitläufigen Haus gelöscht und die Türen verschlossen hat. Mit einer Petroleumlampe in der Hand schreitet sie durch die künstlich hinausgezögerte Dämmerung, Treppe um Treppe, Flur um Flur, und misst dabei, ohne es zu ahnen, die Distanz zwischen ihren Herrschaften aus. Unten im Vestibül bereut der Hausherr sein Vergehen, während die misshandelte Ehefrau längst in ihrem Zimmer verschwunden ist. Alle Verzweiflung der letzten Stunden liegt in der Atempause dieses langen Gangs, mit dem Patrice Chéreau einen eskalierten Ehestreit in vielsagender Düsternis ausklingen lässt. Es ist ein Moment höchster Theatralik, der gleichwohl reines Kino ist: die Bewegung des Lichts, der Kamera und der Musik als Ausdruck eines inneren Empfindens. „Während es in der Kritik üblich geworden ist, das Gemeinsame von Film und Roman zu unterstreichen, gilt das ,verfilmte Theater‘ oft noch immer als Sakrileg.“ Das schrieb André Bazin vor über einem halben Jahrhundert und hat bis heute damit Recht behalten. Theatralik ist wohl das Letzte, was sich ein Filmregisseur vorwerfen lassen möchte, es sei denn, er hat sich wie Patrice Chéreau die Rolle des Ketzers ausgesucht. Schon mit seinem Filmdebüt „Die Bartholomäusnacht“ (fd 30 981) inszenierte Chéreau einen filmischen Theaterdonner, der das Pathos des Hier und Jetzt im Historienfilm beschwor – der Titel seines vorletzten Films „Intimacy“ (fd 34 894) könnte auch für sein Regiekonzept als Ganzes stehen. Stets versucht der Theaterregisseur ein filmisches Äquivalent für die Bühnenpräsenz der Schauspieler und die Lebendigkeit der Bühne selbst zu finden. Der Weg dorthin ist gleichwohl jedes Mal ein anderer und immer überraschend. In „Gabrielle – Liebe meines Lebens“ rückt Chéreau seinen Schauspielern deshalb nicht mehr mit der Handkamera zu Leibe, sondern bleibt wie bei einer Versuchsanordnung auf Distanz. Die Männer tragen Vatermörder und die Frauen Korsett, es regiert das gehobene Bürgertum Anfang des 20. Jahrhunderts. Wenn dieses in Konventionen erstarrte Sittenbild der Pariser Gesellschaft aufgebrochen wird, dann mit den Stilmitteln der Avantgarde. Chéreau wechselt von Schwarz-weiß zu Farbe und zurück, lässt Wörter wie Texttafeln über die Leinwand zucken oder räumt in einzelnen Szenen dem Zusammenspiel von Musik, Kamera und Licht die Bühne. Der Eindruck eines in Künstlichkeit eingekapselten Geschehens ist durchaus gewollt. „Gabrielle – Liebe meines Lebens“ basiert auf einer kurzen Erzählung Joseph Conrads („Die Rückkehr“), der Chéreau alles „Natürliche“ ausgetrieben hat: Jean Hervey kommt von einer Geschäftsreise zurück und zieht, während er nach Hause geht, die Zwischenbilanz seines erfolgreichen Lebens. Die Bilder sind in Schwarz-weiß, was die Selbstgefälligkeit des „Belle Epoque“- Herren noch blutärmer erscheinen lässt, und der Bildausschnitt ist so gewählt, dass die Straße nur als flüchtige Kulisse seines Ichs erscheint. Der Moment der Krise kommt dann so unvermittelt wie unvermeidlich: Hervey findet einen Brief seiner Frau Gabrielle, in dem sie ihm eröffnet, ihn für einen anderen Mann verlassen zu wollen. Der Gehörnte ringt sichtlich um Fassung und gewinnt sie erst wieder, als seine Frau überraschend vor der Tür steht. Sie will nicht sagen, was sie zur Rückkehr bewegte, und er besteht weniger aus Eifersucht denn aus gekränkter Eitelkeit auf einer Aussprache. Die Ehe, stellt er klar, befriedigt sein Bedürfnis nach Repräsentation, und wer dieses Arrangement einer romantischen Neigung wegen gefährde, könne nicht recht bei Sinnen sein. Entsprechend gilt seine größte Sorge, wie man den Schein nach Außen bewahren und nach Innen wiederherstellen kann. Einen Tag erhält Hervey diese Fassade aufrecht, doch am folgenden Abend macht er seiner Frau vor den Gästen seines Hauses eine Szene. Ihre Antwort legt sein Leben vollends in Trümmer: „Wenn ich gewusst hätte, dass Du mich liebst, wäre ich nie zurückgekommen.“ Der ganze Film dreht sich mit diesem Satz: Aus einem Ehedrama wird das Melodram eines männlichen Selbstbetrugs, denn nun erscheint Herveys Aufgehen in der Konvention wie eine Flucht vor den eigenen Gefühlen. Nicht nur die Frau wusste ihr Leiden hinter einer Maske zu verbergen, sie wurde darin von ihrem Gemahl noch um Längen übertroffen. Für diese Studie in sozialem Masochismus hat Chéreau mit Pascal Greggory und Isabelle Huppert zwei bestechende Hauptdarsteller gefunden. Wenn die Herveysche Ehe ein für das Gegenüber inszeniertes Schauspiel ist, wer könnte dann besser in die Rollen schlüpfen als zwei einander ebenbürtige Meister des Artifiziellen? Ihr Regisseur steht dabei freilich nicht zurück. Wenn der Theater- und Filmregisseur Patrice Chéreau die Grenzen seiner beiden Metiers verwischt, geht es ihm um nichts Geringeres als das Beste zweier Welten, Körperlichkeit und Montage, Emotion und Reflexion, zu vereinen. Unmögliche Nähen haben es ihm angetan, auch wenn er sie wie diesmal etwas distanziert betrachtet.
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