- | Belgien/Frankreich 2004 | 83 Minuten

Regie: Bouli Lanners

Ein junger, kontaktscheuer Makler von Fertighäusern steht im Mittelpunkt eines Films, der in fragmentarischer Form eine Handvoll Figuren porträtiert, die sich auf unterschiedliche Weise in der Tristesse einer zersiedelten Industrielandschaft eingerichtet haben. Der von tiefschwarzem Humor durchzogene Film handelt von Selbstvergessenheit, tiefer Traurigkeit und Einsamkeit, die der Einzelne kaum zu überwinden vermag. Eine lakonische Szenenfolge und ein brillant stilisierter Bilderreigen der Entfremdung. (O.m.d.U.)
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Filmdaten

Originaltitel
ULTRANOVA
Produktionsland
Belgien/Frankreich
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Versus Prod./Prime Time/Scope Invest
Regie
Bouli Lanners
Buch
Bouli Lanners
Kamera
Jean-Paul de Zaetijd
Musik
Jarby McCoy
Schnitt
Ewin Ryckaert
Darsteller
Vincent Lecuyer (Dimitri) · Hélène de Reymaker (Cathy) · Marie du Bled (Jeanne) · Michaël Abiteboul (Phil) · Vincent Berlogey (Verbrugghe)
Länge
83 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
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Diskussion
Wer die Zeichen zu lesen versteht, der weiß: Es muss alles anders werden! Aber ist ein auf offener Strecke ohne äußeren Anlass platzender Airbag schon ein diesbezügliches Zeichen oder doch eher ein Konstruktionsfehler? Wenn es kein Konstruktionsfehler ist, will das Zeichen dann vermitteln, dass etwas schief gelaufen ist im Leben? In Bouli Lanners' Spielfilmdebüt „Ultranova“ stellen sich die Figuren wenig Fragen, sondern entwickeln eher Theorien über Dritte. Kann es sein, dass sich das Verhalten des geheimnisvollen oder zumindest sehr scheuen jungen Maklers Dimitri dadurch erklären lässt, dass er (vielleicht) seine gesamte Familie bei einem schrecklichen Unglück verloren hat? Die junge Jeanne beobachtet mit ihrer Freundin Cathy den Schweigsamen und entwirft in die Leere hinein biografische Fantasien. Später wird sie Dimitri überraschend kennen lernen. „Ultranova“ besteht aus einer losen Folge von Szenen, die in ihrer ausgestellten Künstlichkeit einen episch-theatralischen Effekt produzieren. In der Eingangsszene sieht man ein Auto in menschenleerer Landschaft auf dem Dach liegen, aus dem der offenkundig überraschte Dimitri kriecht. Ganz am Schluss erfährt man, dass sich sein Airbag unvermittelt öffnete, als er merkte, dass aus seiner Liebe zu Cathy nichts werden würde. Muss er jetzt sein Leben ändern? Jeanne jedenfalls, die davon träumt, mit ihrem Freund in Italien Erbsen zu sammeln, versucht, ihr Leben zu ändern, indem sie mit einem Messer ihre Lebenslinien „korrigiert“, schienen doch die natürlichen wenig Freiräume für die Angestellte eines Möbelhauses zu bieten. Was sich zunächst wie eine pointierte filmische Referenz ans absurde Theater ausnimmt und durch den minimalistischen Soundtrack von Jarby McCoy deutlich in die Nähe der lakonischen Filme Jim Jarmuschs rückt, wird durch den Einbezug der Tristesse zersiedelter belgischer Vorstädte geerdet. Dimitri und seine Kollegen makeln mit konfektionierten Fertighäusern, die zu Siedlungen auf leeren Feldern gereiht werden. Die Landschaften, die die Kamera durchstreift, sehen nie so aus, als könne hier je mit menschlichem Leben gerechnet werden. Die Figuren treffen sich deshalb auch lieber in provisorischen Diners, tauschen Belanglosigkeiten aus und spinnen an ihren seltsamen Theorien. So glaubt ein Vertreter, am Äußeren einer Frau den Grad ihrer Schwangerschaft zu erkennen. Er erzählt dies sehr überzeugend (oder zumindest: sehr von sich überzeugt), aber als er sich eines Tages auf die Ebene der Empirie begibt, ist das Resultat schmerzhaft. So reiht „Ultranova“ Szenen der Entfremdung aneinander, die die Figuren immer wieder an den Rand von Nervenzusammenbrüchen führt. Alle Figuren versuchen, ihr Verhalten im Hinblick auf die realen Lebensbedingungen zu optimieren. Dimitri und seine Kollegen absolvieren sogar Fahrkurse, um für den Fall der Fälle gewappnet zu sein. Dabei sind die Straßen, auf denen sie sich bewegen, breit und kurvenlos. Als einmal ein Mann um eine Mitfahrgelegenheit bittet, wird lange diskutiert, ob eine solche Gefälligkeit versicherungstechnisch kalkulierbar sei. Hier klingt ein weiteres Motiv des Films an, das durch den Mythos vom platzenden Airbag variiert wird und auch im Konzept des Fertighauses erscheint: die Idee, sich gegen Einbrüche des Lebens zu versichern, die durchweg als bedrohlich eingeschätzt werden. Man wähnt sich in Gefahr und versucht, sichernde Strategien zu entwerfen, die komisch wirken, wenn sich die Gefahr nicht zeigt. Anders gesagt: Die Versicherung versichert das Individuum nicht nur gegen eventuelle Schäden, sondern führt mittelfristig auch dazu, dass das Individuum jede seiner Handlungen daraufhin befragt, ob die Konsequenzen dieses Verhaltens nicht irgendwann versicherungsrelevant werden könnten. Dadurch, dass die Menschen ihren Handlungsspielraum und ihre Ansprüche freiwillig einschränken, werden sie unglücklich. Als er den Schmerz der Entfremdung nicht mehr aushält, begeht der alerte Chef Dimitris Selbstmord. Bouli Lanners erzählt Geschichten aus der Welt, die auch die Brüder Dardenne in ihren Filmen beschäftigen. Es ist etwas faul im Staate Belgien, der doch nur die Zukunft postindustrieller Staaten antizipiert. Auf die Zurichtung des Menschen reagiert Lanners mit tiefschwarzem Humor und einer offenen, bildhaften Erzählweise, die auf kreative und neugierige Zuschauer vertraut. So fungiert das Kino vielleicht schon als Gegengift zur psychischen Verelendung.
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