Im Glück (Neger)

- | Deutschland 2005 | 87 Minuten

Regie: Thomas Heise

Auf der Grundlage von Filmaufnahmen aus den vergangenen sechs Jahren erkundet Thomas Heise Erfahrungen und Chancen junger Leute in der bundesdeutschen Gesellschaft. Ohne auf konventionelle biografische Erzählweisen zurückzugreifen, fügt er die Selbstäußerungen mit atmosphärischen Szenen und Inserts zu einer frappierenden Kunstwirklichkeit. Der radikal subjektive, hermetische Film stellt hohe Anforderungen an den Zuschauer und hinterlässt eine Fülle von Fragen zum Alltagsleben und zu den Gefühlszuständen junger, nicht-privilegierter Erwachsener. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Ma.Ja.De Filmprod./mdr-arte
Regie
Thomas Heise
Buch
Thomas Heise
Kamera
Peter Badel
Schnitt
Mike Gürgen
Länge
87 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
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Diskussion
Im Sommer 1999 inszenierte Thomas Heise in einer Berliner Fabrikhalle mit Jugendlichen das Heiner-Müller-Stück „Anatomie Titus Fall of Rome“. Zu einigen der Mitwirkenden kehrte er später mit der Kamera zurück, beobachtete und befragte sie, forderte sie auch auf, selbst verfasste Texte vorzulesen. Heute sind die einstigen Schüler über 20 Jahre alt, haben erste Erfahrungen mit Berufen, Ämtern und Arbeitgebern hinter sich. „Im Glück (Neger)“ fasst nicht nur ihren Blick auf die Welt zusammen, sondern benutzt das in den vergangenen sechs Jahren recherchierte Material, um auch Heises Sicht auf den Alltag, die Hoffnungen und Chancen dieser Generation zu bündeln. Dabei verweigert sich der Regisseur einer konventionellen Erzählstruktur. Seine Dramaturgie hält sich nicht an biografische Abläufe, die in Form einer filmischen Chronik noch einmal repetiert würden. Stattdessen formt Heise Partikel aus den fünf ausgewählten Lebensläufen zu einer neuen Kunstwirklichkeit. Diese Partikel können aus minutenlangen, ungeschnittenen Aufnahmen bestehen wie im Fall von Sven, dessen erster Besuch im Sozialamt, mit fest stehender Kamera aufgenommen, an frühere Filme des Regisseurs wie „Das Haus“ (fd 35 217) über den Alltag in der Stadtbezirksverwaltung Berlin-Mitte erinnert. Sie können aber auch in Form von Inserts im Film aufscheinen, in denen Eindrücke und Erfahrungen der jeweiligen Figur auf ein Minimum verdichtet sind. Die junge Schauspielerin Lena fügt sich u.a. mit einem Text von Lautréamont in den Film ein: „Wer nie ein Schiff mitten im Ozean hat sinken sehen, wo Blitze mit tiefster Finsternis wechseln, während jene, die es birgt, der wohlbekannten Verzweiflung erliegen, der kennt die Schläge des Lebens nicht.“ Mehrfach zitiert Heise eine 1999 gedrehte Szene, in der ein fliehender Junge von anderen auf einer Brücke eingeholt und umkreist wird. Nur wer die Gelegenheit hat, den Regisseur zu befragen, erfährt, dass es sich dabei um einen Mitspieler handelte, der von den Proben zu „Anatomie Titus“ ausriss. Im Film selbst werden diese konkreten Hintergründe nicht benannt; die Szene soll, losgelöst von jeder Sachinformation, beim Zuschauer das Gefühl von Bedrohung und Bedrückung bewirken. Zudem verwendet Heise als wichtiges Stilmittel lange Kamerafahrten auf leeren Fluren oder durch Straßen, Kamerablicke auf Züge, S-Bahnen, Bahnhöfe. Diese Bilder sind sein Kommentar zur Unbehaustheit, der oft sinnlos verfliegenden Zeit, der sich große Teile der jungen Generation, zumal jene, die nicht aus materiell privilegierten Elternhäusern kommen, ausgesetzt sehen. In ersten Reaktionen nach der Berliner Uraufführung kritisierten manche Zuschauer das Hermetische des Films: Das Fehlen von Fakten erschwere den Zugang beträchtlich. Dieser Einwand wäre insofern berechtigt, wenn es sich bei „Im Glück (Neger)“ um einen klassischen, in seiner Form konventionellen Dokumentarfilm handelte. Heise aber schwebte ein seismografisch-atmosphärisches Essay vor. Der Verzicht auf Erklärungen und Deutungen, die Formung des Materials zu einer neuen Kunstwirklichkeit bewirkt hier eine Qualität, die auch die Kunst des Zuschauens neu herausfordert. Heise lässt das Publikum freilich nicht ganz allein: Im Prinzip gruppieren sich alle Bilder um die Geschichte von Sven, dem der meiste Platz eingeräumt wird. Nach seiner Schulzeit hatte er sich zu zwölf Jahren Dienst bei der Bundeswehr verpflichtet, war aber schon nach neun Monaten wieder entlassen worden. „Im Glück (Neger)“ zeigt ihn u.a. bei der Vereidigung, später auf dem Sozialamt und am Schluss beim Verlesen eines Briefs an den Regisseur, in dem er darüber reflektiert, wie schwer es ihm, dem Arbeitslosen, falle, morgens überhaupt noch aufzustehen. Ein Angebot, für fünf Euro pro Stunde in seinem erlernten Beruf zu arbeiten, hat Sven abgelehnt. In der rund zehnminütigen Szene auf dem Sozialamt prägen sich besonders drei Sentenzen ein: „Rückwirkend kann man nicht verhungern“, antwortet die Angestellte auf seinen Wunsch, die Unterstützung auf den Beginn des laufenden Monats zu datieren. Dann der Satz, bezogen auf den ausgeschlagenen Job: „Sie haben keine Wahl.“ Seine Reaktion: „Det is’ Ausbeutung hoch fünf.“ Auch ein religiöses Motiv flicht Heise in Svens Szenen ein: Nachdem auf einem Insert das Bibelwort „Vater, warum hast Du mich verlassen“ erschienen ist, begleitet der Film den Jungen bei einem Besuch seines leiblichen Vaters, der der Familie vor Jahren der Rücken kehrte. Zu sehen ist der Mann indes nicht, nur auf einem Tonbandmitschnitt zu hören. Bei der Vereidigung in der Bundeswehr bringt Sven die Formel „...so wahr mir Gott helfe“ nicht über die Lippen. Der Vaterbezug wird am Ende noch einmal deutlich, wenn die Kamera zwei Schlüsselanhänger groß ins Bild rückt, die Sven bei der Bundeswehr gekauft hatte: „Hart und zäh“ steht auf dem einen, „Klagt nicht, kämpft“ auf dem anderen. Der Traum des Jungen, wieder zur Truppe zurückkehren zu dürfen, entspricht seiner Sehnsucht nach einem Halt im Leben, nach Ordnung, Disziplin, patriarchalischer Strenge. „Im Glück (Neger)“ ist ein radikal subjektiver Film. Und zugleich eine Bestandsaufnahme, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft miteinander verschmelzen lässt. Zu den grandiosen Momenten gehört eine Szene, in der ein anderer Junge, Thomas, noch als Schüler über sein Leben nachdenkt. Das letzte Zeugnis war schlecht. Wie ein Damoklesschwert schwebt die Drohung über ihm, damit die Weichen für alles Kommende gestellt zu haben. Wenn er nicht besser lerne, sagt Thomas, „verpasse ich den Anschluss, ich meine generell“. Ein 15-Jähriger sieht seine nächsten 60 Jahre mit Erschrecken vor sich.
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