Odessa, Odessa

Dokumentarfilm | Israel/Frankreich 2004 | 96 Minuten

Regie: Michale Boganim

Dokumentarisches Essay über russische Juden zuhause und in der Ferne. Von Odessa führt der Film in den New Yorker Stadtteil Brighton sowie nach Aschdod in Israel. Der kontemplative Bilderreigen ist weniger an der Rekonstruktion einzelner Schicksale als am atmosphärischen Gefühlskosmos einer Gemeinschaft interessiert und fragt nach Glückssuche und ewiger Wanderschaft, Fremdheit in der Welt und Geborgenheit in sich selbst und den eigenen Erinnerungen. Ein melancholischer Film, hervorragend fotografiert, auch philosophisch von großer Schönheit. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ODESSA, ODESSA
Produktionsland
Israel/Frankreich
Produktionsjahr
2004
Produktionsfirma
Transfax/Moby Dick Films/Nikmedia/Anette Betsalel/The National Film School/Sarah Films
Regie
Michale Boganim
Buch
Michale Boganim
Kamera
Jakob Ihre
Schnitt
Valerio Bonelli · Koby Nathanel
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Für ihren ersten abendfüllenden Film „Odessa, Odessa“ reiste die israelische Regisseurin Michale Boganim an drei Orte, die mit jüdischer Geschichte und Gegenwart eng verbunden sind: Ausgangspunkt ist Odessa, die Hafenstadt am Schwarzen Meer, einst eine blühende Metropole russisch-jüdischen Lebens; von hier aus führte der Weg nach New York, in den Stadtteil Little Odessa und an den Strand von Brighton Beach; schließlich folgt die Regisseurin den Spuren von Emigranten nach Israel, in die Neubaustadt Aschdod. Jedes Kapitel ist von Kameramann Jakob Ihre in ein eigenes Licht getaucht: Odessa erscheint in traumverlorenem Blaugrau, Brighton Beach im Rotbraun des Herbstes oder leicht farbstichiger amerikanischer Filme der 1960er- und 1970er-Jahre; Aschdod dagegen ist flirrend weiß. Alle Drehorte wirken mehr oder weniger unwirklich, die Menschen darin wie auf ewiger Wanderschaft. Jakob Ihres Kamera gleitet, schwebt, dreht sich, eine fortdauernde Bewegung in die Richtung eines anderen als des irdischen Daseins. „Odessa, Odessa“ ist nicht an der peniblen biografischen Rekonstruktion einzelner Schicksale interessiert, sondern am atmosphärischen Gefühlskosmos einer ebenso disparaten wie durch viele unsichtbare Fäden verbundenen Gemeinschaft. Dabei gilt Odessa mit seinen Straßen und Plätzen, der legendären Hafentreppe und den Wohnungen alter jüdischer Menschen selbst den Dortgebliebenen nur noch als imaginärer Sehnsuchtsort. Aber weder in New York noch in Israel haben die Weggegangenen gefunden, was sie suchten: weil das nur in ihren Träumen und in ihrem Herzen existiert, nicht in der Realität. Obwohl sie schon 20 und mehr Jahre in New York leben, sind viele russische Juden Fremde geblieben. Auf einer Stadtrundfahrt, bei der sie der Film begleitet, betrachten sie Manhattan mit seinen Wolkenkratzern wie Touristen. In Little Odessa dagegen lesen sie russische Zeitungen, sehen russisches Fernsehen, gehen in die Sauna oder in eine Café-Bar namens Moskau. „Odessa Mama liebt Brighton Papa“ lautet ein melancholischer Vers, der auf biografische Wurzeln und Wurzellosigkeit gleichermaßen verweist. Und wenn eine alte Frau das Lied „Bei mir bisti sheyn“ singt und die Kamera auf Odessas löchrige Straßen und den bröckelnden Putz der Hauswände überblendet, wird auch physisch transparent, dass die Suche nach Heimat nicht auf die Gegenwart und schon gar nicht auf die Zukunft gerichtet ist. Jüdische Russen, russische Juden – gerade auf diese Symbiose kommt der Film immer wieder zurück. Einmal sinniert einer der Protagonisten über das Warten auf den Messias und kommt zu dem überraschenden Schluss: „Die Rote Armee war mein Messias.“ Die Rote Armee, die wesentlich dazu beitrug, das sehr reale Gespenst des Faschismus zu bekämpfen. Mehrfach blendet „Odessa, Odessa“ die Ansage von Radio Moskau aus dem Sommer 1941 ein, in der der Überfall Deutschlands auf die Sowjetunion mitgeteilt und zum Großen Vaterländischen Krieg gegen die Aggressoren aufgerufen wird. Noch 2004 legen jüdische Kriegsveteranen in Aschdod ihre Orden an und ziehen zu den Klängen einer Blaskapelle durch die Siedlung. Eine ähnliche, neue Symbiose der Ausgewanderten mit den USA oder Israel hält der Film für wenig möglich: Obwohl man aus vollem Hals „God bless America“ singt oder die israelische Flagge schwenkt, bleibt ein hohes Maß an Fremdheit. Sowohl in Brighton als auch in Aschdod sitzen die Emigranten am liebsten auf den Bänken am Hafen; ganz ähnlich wie einst in Odessa, wo der Blick auch schon in die Ferne und auf das dort vermutete Glück gerichtet war. Das alles lässt „Odessa, Odessa...“ seine Zuschauer „erfühlen“; kein Kommentar stört den kontemplativen Bilderreigen, die oft musikalische Tonebene, das Eintauchen in die entfliehende Zeit. Ganz am Ende kehrt die Regisseurin noch einmal nach Odessa zurück. Michale Boganim: „So hört der Film niemals auf. Er entlässt einen als Suchenden.“
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