Krimi | Frankreich 2005 | 129 Minuten

Regie: Dominik Moll

Das Leben eines jungen Paars in Südfrankreich läuft aus dem Ruder, als der Chef des Mannes mit seiner Frau zu Besuch kommt und diese nichts unversucht lässt, die Ehe der Gastgeber zu zerrütten. Sie sät Zweifel an der Treue des Mannes und begeht in dessen Gästezimmer Selbstmord, wobei ihr unseliger Geist auf die jüngere Frau überzugehen scheint. Virtuos jongliert das subversive Ehedrama mit Krimi-, Thriller- und Horror-Elementen und erzählt vom Einbruch (selbst-)zerstörerischer Elemente in eine bürgerliche Existenz. Voller psychologischer Finessen, oszilliert der Film zwischen Realität, Wunsch- und Albtraum und bringt seine Wirkung dank des virtuosen Zusammenspiels der Darsteller zur Entfaltung. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LEMMING
Produktionsland
Frankreich
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Diaphana Films/France 3 Cinéma
Regie
Dominik Moll
Buch
Gilles Marchand · Dominik Moll
Kamera
Jean-Marc Fabre
Musik
David Whitaker
Schnitt
Mike Fromentin
Darsteller
Laurent Lucas (Alain Getty) · Charlotte Gainsbourg (Bénédicte Getty) · Charlotte Rampling (Alice Pollock) · André Dussollier (Richard Pollock) · Jacques Bonnaffé (Nicolas)
Länge
129 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Krimi
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Alamode (1:1,85/16:9/Dolby Digital 2.0)
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Diskussion
Der legendenumrankte Massensuizid des titelgebenden Nagetiers wird in „Lemming“ schon recht früh als „absurde romantische Theorie“ abgetan. Was der Wirkung der Metapher jedoch keinen Abbruch tut: Wenn zu Beginn des Films ein halbtoter Lemming im Abflussrohr einer südfranzösischen Küchenspüle steckt, dann versteht man dies als beunruhigendes Signal für den Einbruch des Irrationalen und Morbiden in die geregelten Verhältnisse eines vermeintlich kontrollierbaren Lebens. Denn das sympathische Ehepaar Getty, dem der entsprechende Siphon gehört, wirkt wie der perfekte Beleg für die These, dass man die eigene Existenz und das eigene Glück selbst in der Hand hat. Voller Vertrauen, Respekt und Zärtlichkeit gehen die beiden miteinander um; während Alain als Ingenieur für Hausautomatik fliegende Überwachungskameras konstruiert, verbringt Bénédicte ihre Tage damit, den Haushalt zu besorgen und sich am neuen Wohnort in Südfrankreich einzuleben. Das gemeinsame Glück scheint durch nichts zu erschüttern zu sein – bis zu dem Abend, an dem sich Alains Boss Richard Pollock und seine Frau Alice – wohlgemerkt selbst – zum Essen einladen und das Wohnzimmer der Gettys als Schauplatz eines peinlichen Ehekrachs nutzen. Ihren desaströsen Auftritt krönt Alice, indem sie dem Musterpärchen Alain und Bénédicte eine zerrüttete Ehe an den Hals wünscht. Noch in derselben Nacht zieht Alain den Lemming aus dem Abfluss – und mit dem Auftauchen des Nagers beginnen Alices Worte Wirkung zu zeigen. Nach und nach schleichen sich Lüge, Misstrauen und Disharmonie in das Leben der Gettys, woran Alice nicht nur in der übersinnlichen Art eines missgünstigen Geistes, sondern auch ganz konkreten Anteil hat. Denn schon am nächsten Tag kreuzt sie in Alains Büro auf und versucht, den Angestellten ihres Mannes zu verführen. Einen kurzen Moment lang lässt sich Alain auf das verlockende Angebot ein, schafft es aber letztlich, zu widerstehen: „Der Körper sagt ja, der Kopf sagt nein“, fasst Alice das widersprüchliche Verhalten des Mannes zusammen, der meint, stets alles im Griff haben zu können. Alice scheint gekommen, diese anmaßende Haltung zu widerlegen, und tatsächlich: Der winzige Augenblick, in dem der Ingenieur die Kontrolle über sein Handeln verliert, lässt Entfremdung und Zwietracht ins private Glück der Gettys einsickern. Auch Bénédicte wird im umfassenden Wortsinne von Alice heimgesucht: Unangekündigt taucht die Ältere auf, um Zweifel an Alains Treue zu säen – und um sich anschließend im adretten gettyschen Gästezimmer das Leben zu nehmen. Fast meint man es mit Händen greifen zu können, wie Alices Geist in dieser atmosphärisch dichten Szene auf die Jüngere übergeht: Dem starren Blick, dem schweren Atem der Sterbenden kann sich Bénédicte nicht entziehen. In den folgenden Tagen scheint sich die junge Frau, die mit ihrem zarten, schmalen Körper der Verstorbenen äußerlich ähnelt, nach und nach in Alice zu verwandeln. In der launischen, unberechenbaren Frau, die ihm nun entgegentritt, erkennt Alain die sonst so ausgeglichene Bénédicte kaum wieder – was eine beängstigende, aber auch erregende Erfahrung ist. Schon in Dominik Molls letztem Film „Harry meint es gut mit dir“ (fd 34 672) war es das Zusammentreffen mit einem anderen Paar, das das im Zentrum stehende Ehepaar aus seinen fest gefügten Lebensbahnen warf und dessen Beziehung einer Zerreißprobe unterzog, indem es verschüttete Emotionen und seelische Abgründe freilegte. Erneut drängt sich dem etwas naiven und (zunächst) passiven Durchschnittspärchen „das Andere“ förmlich auf; erneut schillert dieses Fremde bis zuletzt zwischen projiziertem Alter Ego, fantastischem Wunschbild und handfestem Gegenpart. Mit ihrer libertinär-hedonistischen, aber auch selbstzerstörerischen Lebenshaltung verkörpern die Pollocks eine dunkle Seite menschlicher Emotionen, über die die Gettys bis zu der Begegnung mit dem älteren Paar nicht zu verfügen glaubten; Richard und Alice stellen gewissermaßen die Fleisch gewordene Personifizierung der versteckten Wünsche des jüngeren Paars dar, repräsentieren zugleich aber auch eine ganz konkrete Gefahr, indem sie für Alain und Bénédicte zum jeweiligen Nebenbuhler werden. Die Parallelen zwischen „Harry meint es gut mit dir“ und „Lemming“ setzen sich auch darin fort, dass der großartige Laurent Lucas beide Male die zudem ähnlich angelegte Hauptrolle spielt: Das Muster eines Menschen, der immer alles richtig und es stets allen recht machen will, sich aber schließlich von denen, die da so unerwartet in sein Leben eingedrungen sind, sogar zum Mord provozieren lässt. Dass man der Fülle an dramaturgischen Wendungen und (para-)psychologischen Spielereien in „Lemming“ stets gerne zu folgen bereit ist, liegt nicht zuletzt an dem wunderbar funktionierenden Zusammenspiel des glänzenden Darsteller-Quartetts, in das sich Lucas ebenso bereitwillig einfügt wie Charlotte Rampling, André Dussolier und Charlotte Gainsbourg. Mit großer Ausgewogenheit weiß Moll, der die zwischen Realität, Wunsch- und Albtraum oszillierende Geschichte mit inszenatorischer Finesse und kühl distanziertem Blick entwickelt, seine hochrangige Schauspielerriege zu führen. Bei allen Ähnlichkeiten unterscheiden sich Molls letzter Film und sein neuestes Werk jedoch in der Tonlage: Während „Harry meint es gut mit dir“ trotz seiner Wendung zum Psychothriller vor allem als schwarze Komödie in Erinnerung bleibt, liegt „Lemming“, der sich mit seinen Krimi-, Ehedrama-, Psychothriller- und Horror-Elementen ebenso wenig einem einzigen Genre zuordnen lässt, eine düsterere, ernsthaftere Stimmung zugrunde. Denn auch wenn sich am Ende für das mysteriöse Auftauchen des in Nordskandinavien beheimateten Lemmings in einer südfranzösischen Küche eine banale Erklärung findet und sich die gemäßigte Ratio der Gettys schließlich gegenüber der entfesselten Hassliebe der Pollocks behaupten kann: Die bürgerlich-selbstzufriedene Existenz von Alain und Bénédicte hat Risse bekommen; die vollkommene Harmonie der Schlussszene, die das wieder gefundene Idyll mit leiser Ironie zelebriert, lässt die zurückliegenden, beunruhigenden Erfahrungen der Gettys umso deutlicher zutage treten.
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