- | Deutschland/Schweiz 2006 | 93 Minuten

Regie: Sören Senn

Eine deutsche Assistenzärztin mit Helferdrang bewahrt eine tunesische Putzfrau vor der Abschiebung und will ihr einen gefälschten Pass besorgen, damit sie sich nach Schweden absetzen kann. In ihrem Aktionismus übersieht sie, dass ihr Lebensgefährte und der Gast eine leidenschaftliche Beziehung zueinander entwickeln. Sympathischer, klug konstruierter Erstlingsfilm, der das ernste Thema vielschichtig und mit souveräner Leichtigkeit behandelt. Die hoch präsenten Darsteller loten die widersprüchlichen Gefühlslagen der Protagonisten überzeugend aus. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
KUSSKUSS
Produktionsland
Deutschland/Schweiz
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
HFF "Konrad Wolf"/Novapool Prod.
Regie
Sören Senn
Buch
Katrin Milhahn · Sören Senn
Kamera
Marc Christian Weber
Musik
Boris Bergmann
Schnitt
Kristine Langner
Darsteller
Carina Wiese (Katja) · Axel Schrick (Hendrik) · Saïda Jawad (Saïda) · Victor Choulman (Katjas Vater) · Daniel Stock (John)
Länge
93 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Am Anfang ertönt ein kämpferischer arabischer Frauengesang aus dem Off, begleitet von stakkatoartigem Trommelrhythmus und Bildern einer in Herbstfarben getauchten deutschen Großstadt. Ein dynamischer Prolog, der das hoch aktuelle Thema des Films – das Aufeinanderprallen verschiedener Kulturen im Zuge der wachsenden Immigrationsbewegungen aus Afrika nach Europa – in wenigen Einstellungen und ohne viele Worte einführt. So direkt der Einstieg, so unverblümt geht es weiter: Eine junge Assistenzärztin wird beim Nachtdienst zufällig Zeugin einer Auseinandersetzung zwischen einer südländisch aussehenden Putzfrau und einem Mann, der sie lautstark bedroht. Katja greift instinktiv ein und alarmiert die Polizei. Während der Täter entkommen kann, fliegt die junge Algerierin bei der Passkontrolle auf. Als Illegale ohne gültige Aufenthaltsgenehmigung ist Saïda, die kaum Deutsch spricht, für den Polizisten ein Fall für die Abschiebung und für die Ärztin eine Erinnerung an ihre eigene multiethnische Herkunft. Auf den ersten Blick glücklich liiert mit einem deutschen Geisteswissenschaftler und äußerlich perfekt integriert, kennt sie wegen ihres russischen Vaters – der seit 20 Jahren davon träumt, seine Heimat Odessa wieder zu sehen – das Gefühl der Entwurzelung. Überwältigt von Schuldgefühlen und einem diffusen Helferdrang, nimmt sie die vom Bürgerkrieg traumatisierte Frau mit nach Hause und verspricht, einen gefälschten Pass zu besorgen, um ihr die Ausreise nach Schweden zu ermöglichen. Nicht nur, dass sich die Suche nach einem Fälscher schwieriger erweist als angenommen. Auch das angespannte häusliche Klima gerät durch die Anwesenheit der Fremden aus den Fugen. Katjas von einer Schreibblockade geplagter Freund gibt sich anfangs alle Mühe, um als ein ignoranter und von Klischees und Vorurteilen übersprudelnder Besserwisser zu erscheinen. Obwohl Saïda nur Französisch spricht, traktiert er sie mit einem Kauderwelsch aus Erstklässler-Englisch und Kinderdeutsch, zeigt ihr begeistert seine Urlaubsfotos aus Ägypten und klärt sie über die Gebote des Islam auf: „Mit Allah ist das doch so, der darf das doch nur nicht sehen. Hier, ich mache die Vorhänge zu, jetzt kannst du in Ruhe einen zwitschern.“ Aber auch Katja nutzt Saïda als Projektionsfläche, um sich ihre Zivilcourage zu beweisen. Mal besorgt sie bevormundend neue Kleider, ohne ihren Gast nach den Vorlieben zu befragen, mal zeigt sie sich mitfühlend wegen der Gräuel, die Saïda in ihrer Heimat erleiden musste – genauere Details möchte sie dann aber doch lieber nicht wissen. Ausgerechnet Hendrik, der allmählich die beleidigende Lächerlichkeit seiner Auftritte begreift, soll die Lösung des Problems sein. Katja überredet ihn zur Scheinheirat und merkt vor lauter Aktionismus und Gutmenschentum nicht, dass sich zwischen dem werdenden Ehepaar längst eine Liebesgeschichte anbahnt. Während sie in langen Schichten für die Miete schuftet, erfährt Hendrik in zaghaften Gesprächen von Saïdas früherem Leben als Studentin und einem Vater, der wegen seiner modernen Ansichten von Islamisten ermordet wurde. Die schöne Algerierin erweist sich nicht als ausschließliches Opfer von Repression und Verfolgung, sondern als denkendes Individuum mit Sehnsüchten und Emotionen, als hoch erotische Frau, die nach Halt und Selbstbestätigung sucht. Je mehr sie um ihre Liebe zu Hendrik kämpft, desto mehr gerät dieser in Loyalitätskonflikte zu Katja, die das Paar erst in flagranti erwischen muss, um Saïdas Verrat an ihrer Hilfsbereitschaft glauben zu können. „KussKuss“, das hoch sympathische und kluge Debüt des HFF-Konrad-Wolf-Abgängers Sören Senn, besticht durch die Leichtigkeit, mit der er sein vielschichtiges und ernstes Thema behandelt. Mit pointierten Dialogen und feinen Beobachtungen zur Befindlichkeit heutiger Mittdreißiger, schafft er erstaunlich differenzierte Charaktere mit Ecken und Kanten, getrieben von Hilfsbereitschaft und Desinteresse, Selbstbetrug und Sinnsuche. Dabei gelingt Senn das Kunststück, das Thema Illegalität sensibel und humorvoll aufzugreifen, ohne in die Falle einer didaktischen Attitüde zu tappen. Sparsam in der Inszenierung, politisch unkorrekt und nah an den widersprüchlichen Gefühlslagen seiner Helden, zeigt er ein konkretes Schicksal hinter der medialen Aufgeregtheit um Einbürgerungstests und Asylmissbrauch und verliert dabei auch das Allzumenschliche nicht aus den Augen. Ein politischer Film im Gewand einer „ménage à trois“, mitreißend, in jeder Szene glaubwürdig und getragen von hoch präsenten Darstellern, die man im deutschen Kino öfter sehen möchte, allen voran die wunderbare Carina Wiese in der Rolle der Katja – eine echte Entdeckung.
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