Der Nachtschwärmer

Drama | Argentinien/Frankreich 2005 | 81 Minuten

Regie: Edgardo Cozarinsky

Für einen 19-jährigen Stricher und Drogendealer aus Buenos Aires, der Protektion in Polizeikreisen genießt, ändert sich das Leben in der Nacht von Allerheiligen schlagartig, als er beobachtet, wie eine junge Frau ihren Geliebten vor einen Lastwagen stößt. Dadurch werden ihm, der sich längst in eine Welt der Illusionen zurückgezogen hat, die Augen für sein Leben geöffnet. Der zwischen Sozialdrama und düsterer Fantastik oszillierende Film beschreibt eine verkehrte, haltlose Welt, in der die Menschen die Realität nur noch in Wahnzuständen ertragen. Neben dem menschlichen Drama ist er eine düstere Abrechnung mit den Zuständen in Argentinien. Kameratechnisch und darstellerisch überzeugend. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
RONDA NOCTURNA
Produktionsland
Argentinien/Frankreich
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Cine Ojo/Les Films d'Ici
Regie
Edgardo Cozarinsky
Buch
Edgardo Cozarinsky
Kamera
Javier Miquelez
Musik
Carlos Franzetti
Schnitt
Martine Bouquin
Darsteller
Gonzalo Heredia (Víctor) · Rafael Ferro (Mario) · Diego Trerotola (Carlitos) · Gregory Dayton (Kommissar) · Moro Anghileri (Cecilia)
Länge
81 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Die Extras umfassen u.a. den Kurzfilm "Womit soll ich es waschen?"

Verleih DVD
Salzgeber (1.85:1, DD2.0 span.)
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Diskussion
Im Jahr 1974, nach dem Tod Juan Peróns, verließ der argentinische Filmkritiker und Regisseur Edgardo Cozarinsky sein Heimatland und ging ins Exil nach Paris. Dort entstanden zahlreiche Filme, u.a. die Dokumentation „Der Krieg eines Einzelnen“ (1981) über die deutsche Besatzung Frankreichs während des Zweiten Weltkriegs. Cozarinsky montierte darin Aufzeichnungen der französischen Wochenschau zu Tagebucheintragungen Ernst Jüngers. Eine collagierende Arbeitsweise, die das hierzulande nur wenig bekannte Werk des Argentiniers in vielerlei Hinsicht kennzeichnet. Cozarinsky, der 1992 mit „Straßen der Dämmerung“ als Dokumentarfilmer zu den Schauplätzen seiner Kindheit zurückkehrte, verarbeitet jedoch nicht nur Archivmaterial zu Filmessays, sondern setzt zum Teil auch seine Spielfilme – allerdings auf ideeller Ebene – aus Versatzstücken unterschiedlicher Genres und Erzählweisen zusammen. Auch „Der Nachtschwärmer“, der erste Film, den Cozarinsky nach seiner Rückkehr vollständig in Argentinien drehte, ist so ein Genrehybrid. Der Spielfilm oszilliert zwischen Sozialdrama und Fantastik, zwischen naturalistischer Nüchternheit und surrealer Poesie. Aus diesen Widersprüchen ergeben sich aber keine Kontraste, vielmehr wachsen sie ineinander zu einer selbstverständlichen organischen Einheit. Den dramaturgischen Hintergrund bildet die Nacht von Allerheiligen, in der sich dem traditionellen Volksglauben zufolge die Pforte zwischen irdischem und Totenreich auftut und die Verstorbenen zurückkehren, um ihre Geliebten zu sich zu holen. Eine besondere Nacht also, die für den 19-jährigen Victor zunächst aber wie so viele Nächte davor beginnt. Er rauscht durch die Straßen seines „Reviers“ in Buenos Aires, wo es nie dunkel wird und die Nacht milde bleibt. Im flirrenden Zwielicht von Straßenlaternen, Cafés, Bars und Reklameschildern fühlt sich Victor in seinem Element. Seinen Lebensunterhalt verdient er sich als Stricher und Drogendealer. Den Stoff versteckt er in der Unterhose, die Geldscheine in den Schuhen. Er ist jung, hübsch, trägt schicke Klamotten und genießt den Moment, für den er lebt. Ausgelassen spielt er mit ein paar Kindern Fußball und schwärmt dann stolz, beschwingt weiter durch die Nacht. Natürlich hat das alles seinen Preis. Ein Kommissar holt Victor regelmäßig zum Sex im Auto ab. Der Polizist zahlt nicht, verspricht dafür aber Protektion. Hinterher öffnet sich die Tür und das gebrauchte Kondom landet im Dreck. Die Obdachlosen, die nur ein paar Meter weiter zusammenhocken, nehmen davon längst keine Notiz mehr. Dann geschieht etwas Merkwürdiges. Aus einem fahrenden Auto heraus beobachtet Victor ein junges Pärchen auf dem Bürgersteig, das sich leidenschaftlich küsst. Plötzlich stößt die junge Frau ihren Geliebten vor einen vorbeifahrenden Lastwagen, sie lächelt zufrieden und verschwindet. Das Auto, in dem Victor sitzt, fährt weiter. Er sagt nichts, aber von nun an ist alles anders. Victors Scheinwelt fällt in sich zusammen. Das Gespenstische, das wohl schon immer in seiner Realität nistete, verselbständigt sich. Mit einem Mal wirkt Victor müde, er schleppt sich durch die Nacht, in der er noch zwei alte Bekannte treffen und auf mysteriöse Weise wieder verlieren wird. Es ist schließlich Allerheiligen. Das sind die Stunden, in denen die Toten zurückkehren. Mit traumwandlerischer Sicherheit balanciert Cozarinskys „Der Nachtschwärmer“ auf der Schwelle zwischen Sinnlichem und Übersinnlichem, Realität und Fantasie. Die künstlich helle Nacht der Metropole schafft eine surreale Atmosphäre, in der Wahn und Wirklichkeit ineinander fließen. Bizarrerweise sind es erst die übernatürlichen, geisterhaften Begegnungen, die Victor die Augen für ein Leben öffnen, von dem er sich schon lange in eine Illusionswelt zurückgezogen hat. Die bewegliche Kamera entwirft im Halbdunkel dokumentarisch-lyrische Perspektiven und trägt ebenso wie der zurückhaltende Score und Gonzalo Heredias ungezwungenes, frivol-melancholisches Spiel dazu bei, dass es dem „Nachtschwärmer“ gelingt, den Boden der Realität zu verlassen, ohne abzuheben. Selbst im Übernatürlichen behält der Film eine naturalistische Färbung, und noch die krudesten Straßenmomente durchweht ein Hauch des Irrealen. Cozarinskys somnambules Sozialdrama zeichnet eine verkehrte Welt, eine haltlose, heillose, vom Wahn umfangene Gesellschaft, noch ehe ihre Gespenster Gestalt annehmen. Damit entwirft es zwischen den Zeilen auch ein düsteres Zeitgemälde Argentiniens; eines Landes, das aus den Fugen geraten ist; eines Unrechtsstaates mit korrupter Polizei und geldgierigen, dekadenten Politikern; eines Landes, das sich seiner Toten erinnern und aufwachen sollte.
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