Brasileirinho

- | Schweiz/Finnland/Brasilien 2005 | 90 (gek. 52) Minuten

Regie: Mika Kaurismäki

Dokumentarfilm über die urbane brasilianische Musikform Choro, deren Ursprünge und soziale Funktionen. Durch seine anekdotische Erzählform vermeidet der Film die Strukturen traditioneller Musikdokumentationen und bietet, trotz mannigfaltiger Arrangements, einen mitreißenden Einblick in die Lebendigkeit dieser Musikform. - Ab 12.
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Filmdaten

Originaltitel
BRASILEIRINHO
Produktionsland
Schweiz/Finnland/Brasilien
Produktionsjahr
2005
Produktionsfirma
Marco Forster Prod./Marianna Films/Studio Uno Prod./SF DRS/YLE/ZDF-ARTE
Regie
Mika Kaurismäki
Buch
Marco Forster · Mika Kaurismäki
Kamera
Jacques Cheuiche
Musik
Marcello Gonçalves
Schnitt
Karen Harley
Länge
90 (gek. 52) Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 12.
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Diskussion
Ein magischer Filmbeginn – fast wie damals bei Woody Allens „Manhattan“ (fd 22 160). Über Rio de Janeiro geht die Sonne unter, dazu erklingt eine melancholische Melodie, gespielt von einer Klarinette und einigen Gitarren. Eine eigentümliche Mischung aus Jazz, Gershwin und Folklore. Während die Kamera sich ins nächtliche Getümmel stürzt, erfährt man etwas über eine Musik, die um 1870 erstmals zu hören war. Die Musiker, so der Kommentar, spielten um des Vergnügens willen und mischten die Melodik und Harmonik europäischer Polkas, Walzer und Mazurkas mit afro-brasilianischen Rhythmen. Die erste urbane brasilianische Musikform, der Choro, war geboren, lange vor Samba und Bossa Nova, die ihrerseits auf dem Choro basieren. Der Choro blieb eine sehr offene Form der (Tanz-)Musik, die vielerlei Einflüsse aus Folklore, Kunstmusik, Flamenco und Jazz in sich aufnahm und in zumeist melancholischem Vortrag weiterentwickelte. Der „Hybrid“ war zunächst ausgesprochen populär; der Komponist Hector Villa-Lobos bezeichnete ihn sogar als „die Essenz und die Seele der brasilianischen Musik“, und auch heute, so der finnische Filmemacher Mika Kaurismäki, sei der Choro in Brasilien wieder sehr beliebt, aber außerhalb des Landes als letzte authentische lateinamerikanische Musikform erst noch zu entdecken. Bereits 2002 brachte Kaurismäki mit „Moro no Brasil“ (fd 35 286) einen Dokumentarfilm in die Kinos, der sich ausführlich mit der brasilianischen Musik, ihrer Geschichte und sozialen Funktion auseinander setzte. Damals stand der Samba im Zentrum und ließ wenig Raum für die Vielfalt anderer brasilianischer Musiken, was Kaurismäki seinerzeit schon bedauerte. Jetzt folgt mit „Brasileirinho“ eine weitere Musikdokumentation, die sich ausschließlich dem Choro in seinen unterschiedlichen Spielformen widmet. Als roter Faden fungieren dabei die drei Musiker des Trio Madeira Brasil (Marcello Conçalves, Zé Paulo Becker, Rolando de Bandolim), die der Film durch ihren (Musiker-) Alltag begleitet und die ein großes Choro-Konzert planen, in das der Film mündet. Man erlebt die Musiker beim Proben, beim Fußball, im Gespräch mit anderen Musikern und beim Organisieren ihres Konzerts. Dabei bietet sich reichlich Gelegenheit, in die Vielfalt des Choros, der auf der technischen Virtuosität der Musiker und ihrer Fähigkeit zur Improvisation basiert, einzutauchen. Allerdings muss man auch eine Portion Neugier mitbringen, denn Kaurismäki versucht nicht erst, die Geschichte des Choros ausführlich zu rekonstruieren, sondern bewegt sich allein in der Gegenwart dieser Musik, deren Vergangenheit über Anekdoten und Erinnerungen der Musiker kursorisch und nicht immer allgemein verständlich eingespeist wird. So besucht man Choro-Schulen, deren Schüler die sehr komplexe Musik als „Schule der brasilianischen Musik“ begreifen. In einem Interview hat Mika Kaurismäki die soziale Qualität des Choro betont: „Das Faszinierende am Choro ist seine Wandelbarkeit, seine Fähigkeit, sich je nach Ensemble zu verändern und zu entwickeln. Er passt zu jeder Gelegenheit; man kann ihn allein spielen oder in einer großen Band, in einem Konzert, in einer Jam Session, man kann ihm zuhören oder zu ihm tanzen – es ist eine sehr soziale Musik.“ Kaurismäki gelingen immer wieder bemerkenswerte Szenen, etwa wenn der meisterliche Gitarrist Yamandú Costa ein Instrumentalstück spielt und das gesamte Auditorium im Konzertsaal den Text übernimmt oder wenn sich eine Fähre kurzerhand in einen schwimmenden Konzertraum verwandelt. Musiker jeden Alters, jeder Rasse und (vielleicht) jeder Klasse spielen mit größter Selbstverständlichkeit und voller Respekt miteinander. „Brasileirinho“ ist dabei selbst ein Hybrid. Um die Musik und die Musiker beim Spiel angemessen zu dokumentieren, arbeitete Kaurismäki bei den Aufnahmen mit einem aufwändigen Tonstudio, was der Klangqualität des Films gut tut, aber der Spontaneität wenig Raum lässt. So ähnelt „Brasileirinho“ mit seinem anekdotischen Erzählverfahren, seinen knappen Szenen-Expositionen und inszenierten Dialogen eher einem sehr abstrakten Musical als einer konventionellen Musikdokumentation – was der virtuosen Qualität und der mitreißenden Lebendigkeit der dabei konservierten Musik keinerlei Abbruch tut.
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