Night of the Shorts: Die Ausreißer

- | Deutschland 2000-2005 | 86 Minuten

Regie: Giulio Ricciarelli

Zusammenstellung aus sechs Kurzfilmen, in denen Kinder zwischen sechs und zehn Jahren die Hauptpersonen sind. Vom nostalgischen Rückblick auf die eigene Kindheit, ersten Kinoerlebnissen und der ersten Liebe bis zu erwachenden Vatergefühlen reicht die Palette auf der Seite der Erwachsenen, während die Kinder vor allem lernen, mit ihren Ängsten und Träumen umzugehen. Die Kurzfilme wenden sich trotz der deutlich erkennbaren pädagogischen Absicht eher an Erwachsene als an Kinder und bestechen durch ihre dichte Atmosphäre und eine sensible Inszenierung. Titel der Filme: 1. "Vincent" (2004, 13 Min.); 2. "Triumph des Nichtschwimmers" (2005, 7 Min.); 3. "Marco und der Wolf" (2003, 15 Min.); 4. "Remember" (2004, 11 Min.); 5. "Jan-Yusuf" (2000, 17 Min.); 6. "Ausreißer" (2004, 23 Min.) - Sehenswert ab 12.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2000-2005
Regie
Giulio Ricciarelli · Martin Dolejs · Kilian von Keyserlingk · Dagmar Seume · Tonguç Baykurt
Buch
Soern Menning · Martin Dolejs · Johannes W. Betz · Christina Sothmann · Tonguç Baykurt
Kamera
Torsten Lippstock · Angela Poschet · Inigo Westmeier · Thomas Stokowski · Janne Busse
Musik
Jochen Schleicher · Natalia Dittrich · Jörn Kux
Schnitt
Anne Loewer · Michael Stehle · Charlie Lézin
Darsteller
Konstantinos Batsaras · Sven Walser · Kristian Borisow · Carolin Weber · Ulla Dziadkowa
Länge
86 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 12.

Diskussion
Sechs kleine Jungen, sechs bis zehn Jahre alt, sind die Helden dieser neuen Kurzfilmrolle aus der Reihe „Night of the Shorts“. Kinderfilme im landläufigen Sinn sind es nicht, eher Kinderfilme für Erwachsene, die sich vielleicht an ähnliche Erlebnisse erinnern können. So wie der Mann im Auto im Stau: Er sieht ein kleines Mädchen mit langen Haaren an der Haltestelle und denkt an seine erste Liebe – das so lieb lächelnde Mädchen in dem Film „Weiße Wolke Carolin“ (DDR 1985), den er als kleiner Junge im Kino sah. Als die Schauspielerin und der Regisseur für eine Filmvorführung angekündigt werden, war er maßlos enttäuscht: Carolin war gar kein Mädchen (mehr), sondern eine erwachsene Frau. Der Film musste also älter sein, erkennt der Junge – und auch, dass Kino eine eigene Wirklichkeit hat. „Remember“ (2004) heißt dieser nostalgische Kurzfilm von Dagmar Sonne, der zugleich eine Hommage ans Kino ist, auch an die DDR; ganz aktuell verbindet er Vergangenheit und Gegenwart, denn die damalige Darstellerin der Carolin (Constanze Bernd) spielt sich selbst. Ähnliches in kürzerer Zeitspanne erlebt der elfjährige Milosch, der 1980 aus der CSSR nach Deutschland kommt. Ein Jahr zuvor hatte er sich nicht zu schwimmen getraut, als er mit Pionieren unterwegs war und sich in die hübsche Gruppenleiterin verliebte. Nun treibt ihn die strenge deutsche Schwimmlehrerin ins Wasser, und plötzlich kann Milosch schwimmen und sogar tauchen, viel länger als die anderen, weil er träumt, wie er unter Wasser „seiner“ Gruppenleiterin begegnet. „Triumph des Nichtschwimmers“ (2005) von Martin Dolejs ist eine auf den Punkt genau inszenierte Geschichte, die Mut machen kann, über sich selbst hinauszuwachsen, und von der Konzentration auf die Gesichter der Protagonisten lebt, in denen sich die Gefühle spiegeln. In „Jan-Yusuf“ (2000) konzentriert sich Regisseur Tonguç Baykurt mehr auf das Atmosphärische, auf das türkische Leben in Deutschland. Jan-Yusuf, der nur deutsch redet, hat Angst vor seiner türkischen Großmutter, deren Sprache er nicht versteht, und vor der bevorstehenden Beschneidung, die er mit der Oma in Verbindung bringt und mit allen Mitteln verhindern will. Er reißt aus, das Baby-Schwesterchen, auf das er aufpassen soll, nimmt er mit – bis in die Hundehütte, wo er sich versteckt und erschrickt, als ein großer bellender Boxer vor ihm steht. Doch die Oma lenkt den Hund mit ihrem Besen ab, und Jan-Yusuf hilft der Oma, indem er die Kette des Hundes verkürzt, damit er sie nicht beißen kann. So wird aus Angst Zutrauen, und Jan-Yusuf darf selbst entscheiden, ob er beschnitten werden will. Das ernste Thema der Beschneidung wird in dem aus der Sicht des Jungen erzählten Films zur Metapher, über die eigenen Ängste und Vorurteile zu springen. Der witzigste Kurzfilm der Rolle ist „Vincent“ (2004) von Giulio Ricciarelli – wegen seiner naiven Geschichte und der einfachen, zuweilen skurrilen Bilder. Der neugierige Vincent hinterfragt alles. Wenn die Oma nur schläft, wie die Erwachsenen sagen, aber weinend um das Bett der schlafenden Oma herumstehen, die sich nicht bewegt, dann, so denkt Vincent, ist etwas faul. Durch kurze Überprüfung findet er heraus, dass sie tot ist – und schreibt groß auf seine Tafel: „Erwachsene sagen nicht die Wahrheit.“ Aber es bleibt die Angst, dass auch er plötzlich stirbt, vielleicht sogar im Schlaf, wie der Pfarrer es andeutete. Doch Vincent besiegt die Angst. Wahrscheinlich lernen Erwachsene aus diesem Film mehr als Kinder, nämlich wie lächerlich es wirkt, offensichtliche Wahrheiten vertuschen zu wollen, und sei es aus Rücksicht gegenüber anderen. Weniger überzeugend konstruiert, dennoch packend umgesetzt sind „Marco und der Wolf“ (2003) von Kilian von Keyserlingk und „Ausreißer“ (2004) von Ulrike Grote. Im ersten Film sieht der kleine Marco, der gerade das Märchen vom Wolf und den sieben Geißlein gelesen hat, im Nachtzug einen Mann, der der böse Wolf sein könnte, was ihn sehr erschreckt, sogar noch am Morgen danach, als Marco beim Aussteigen glaubt, ihn auch in dem Mann mit Bart, Hut und Umhang wieder zu erkennen, der zu einem Mädchen mit rotem Käppchen spricht – bis ihn sein Vater aus seinen Träumen holt. „Ausreißer“ schildert, wie ein kleiner Junge eines Morgens vor seinem Vater steht, der von seiner Existenz nichts weiß. Der Vater will ihn zur Mutter zurückbringen, mit der er einst liiert war, findet sie aber nirgendwo – und muss am Abend feststellen, dass sie an just diesem Morgen ums Leben kam. Er lernt, mit dem Kind, das er nie wollte, umzugehen, und findet dies am Ende schön und wichtig. Es gibt viele Ungereimtheiten in diesem mit 23 Minuten längsten Film der Rolle, aber Ulrike Grote findet mitreißende, stimmige Bilder, das allmähliche Vertrauen und die erwachenden Vatergefühle umzusetzen, ohne je kitschig zu werden. Die Rolle bietet eine in dieser Form neuartige, sehenswerte Zusammenstellung. Gemeinsam ist den Filmen über die Kinder-Thematik hinaus, dass die atmosphärisch dichten Geschichten zwischen dem Spiel und dem Ernst des Lebens pendeln. Alle sind sparsam in den Dialogen und konzentrieren sich auf die Bilder und die Gefühle – auch die der Zuschauer.
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