- | Deutschland/Polen 2006 | 89 (TV 81) Minuten

Regie: Florian Gaag

Vier junge Graffiti-Sprayer in einer namenlosen deutschen Großstadt werden von einer neuen Gang herausgefordert, die ihnen die Show zu stehlen droht. Um ihre Kunstfertigkeit unter Beweis zu stellen, wollen sie einen "Wholetrain", einen kompletten Zug besprühen. Doch die Polizei ist ihnen auf den Fersen, und auch innerhalb der Gruppe gibt es diverse Spannungen. Furioser Debütfilm, der die Ästhetik der "Graffiti Art" kongenial adaptiert und perfekt umzusetzen versteht. Rasant erzählt, emotional packend und nah an den Figuren, mangelt es der authentischen Innensicht der Sprayer-Szenen allerdings an Distanz zu ihrem Gegenstand. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
WHOLETRAIN
Produktionsland
Deutschland/Polen
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Goldkind/Yeti Films/ZDF/megaherz
Regie
Florian Gaag
Buch
Florian Gaag
Kamera
Christian Rein
Musik
Florian Gaag
Schnitt
Kai Schröter
Darsteller
Mike Adler (David) · Florian Renner (Tino) · Jacob Matschenz (Achim) · Elyas M'Barek (Elyas) · Alexander Held (Polizist Steinbauer)
Länge
89 (TV 81) Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Starmedia (16:9/Dolby Digital 5.1)
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Diskussion
Graffiti gilt oft als Synonym für hässliche Schmiererei, als ärgerliche Verschandelung öffentlichen Eigentums. Bei allem Verdruss über diese Form moderner Kalligrafie wird leicht übersehen, dass es sich dabei um ein globales Phänomen handelt, dessen Wurzeln bis in die 1970er-Jahre zurückreichen, als in den New Yorker Armenvierteln die HipHop-Kultur entstand. Neben Breakdance, Rappen und DJing zählt auch das „Writing“ zu den HipHop-Essentials: sein Namenskürzel als „tag“ an möglichst auffälliger Stelle zu hinterlassen. Mit Filzstift und Spraydose schrieben sich die Jugendlichen aus den Ghettos dem öffentlichen Bewusstsein ein, wobei ihre Signaturen immer fantasievoller wucherten und bald auch Cartoon-Figuren und dreidimensionale Grafikelemente einbezogen. Das war nicht nur der allgemeinen Überbietungsmanier geschuldet, sondern auch Resultat des „Battle“-Gedanken, der alle HipHop-Formen durchdringt: sich stets in einem rituellen Wettstreit zu befinden, bei dem potenzielle Konkurrenten herausgefordert werden. Im Kern geht es bei Graffiti deshalb stets um Anerkennung und Ruhm innerhalb der Community. Wie in der Rap-Musik kommt es auch beim Writing weniger auf den Inhalt als die Art der Präsentation an, die Kreativität im Ausdruck oder den Öffentlichkeitsfaktor des Ortes, an dem das „Piece“ erscheint – wofür sich alle Formen des Nahverkehrs besonders eignen, von Unterführungen über Brücken bis zu Bussen und U-Bahnen. Die Kenntnis der kulturellen Hintergründe ist für Florian Gaags Debütfilm nützlich, aber nicht notwendig, weil die rasant erzählte Geschichte um David, Tino, Elyas und Armin alle Grundzüge der Graffiti-Kultur enthält, die sich nahezu von selbst erläutern. Handlungsort ist eine namenlose deutsche Großstadt; die Protagonisten haben schlecht bezahlte Jobs und in der Mehrzahl einen Migranten-Hintergrund, nur Armin als Writer-Schüler stammt aus der einheimischen Mittelschicht. David, kreativer Kopf der Crew „Keep Steel Burning“ (KSB), als Sprayer gerade zu sechs Monaten auf Bewährung verurteilt, sitzt wenig später schon wieder am Zeichentisch, um das nächste „Piece“ zu skizzieren. Sein Gegenpol ist Tino, ein unreifer Hitzkopf, der schon bei kleinsten Provokationen die Fassung verliert. Als sie am Treffpunkt der Writer-Szene, einer U-Bahn-Station, ihr jüngstes Werk in Augenschein nehmen wollen, stiehlt ihnen eine andere Crew die Show, mit einem echten „Burner“, wie selbst die Sonderermittler anerkennen. Das kann die KSB nicht auf sich sitzen lassen. Einzig mögliche Antwort auf diese Provokation: ein „Wholetrain“, die Bemalung eines kompletten U-Bahnzugs. Doch die Polizei hängt David an den Fersen, Elyas hackt ständig auf Achim herum, dessen begüterte Herkunft er nicht tolerieren kann, und Tino ist schon von den Windeln seines kleinen Sohns überfordert, den er gelegentlich beaufsichtigen muss. Als der erste Versuch im U-Bahn-Depot scheitert, will David aussteigen, da ihm bei einer Verhaftung das Gefängnis droht. Doch dann nötigt ihm Tino das Versprechen ab, die Crew nicht im Stich zu lassen. „Wholetrain“ ist ein hochspannendes, emotional packendes Drama, bei dem es nicht allein auf den dramaturgischen Bogen ankommt: Auch der Film selbst will Style, hochartifizielle Graffiti-Kunst sein, indem er sich die Strukturmerkmale ihres Sujets zu eigen macht. Bereits die Eingangssequenz vibriert im Rhythmus der Beats und visuellen Einfällen, mit denen die Figuren eingeführt werden und das Thema wie ein „Piece“ mit groben Strichen vorgezeichnet wird, um im Lauf des Films dann immer plastischer ausgefüllt zu werden. Die Filmmusik, von Florian Gaag (Jhrg. 1971) selbst geschrieben und von „MCees“, Szene-Größen wie KRS-One, El Da Sensei oder Afu-Ra eingespielt, gibt die erzählerische Struktur vor, auf die Kadrierung, Schnitt und visuelle Effekte perfekt abstimmt sind. Atemlos hetzt die Kamera mit den illegalen Helden durch die Nacht, stets auf Augenhöhe der Protagonisten, deren manische Versessenheit ebenso spürbar ist wie ihre physische und psychische Anspannung. Vollends zur „Graffiti Art“ werden die Bilder durch ihre raffinierte Organisation, die mit gewagten Auslassungen und Ellipsen arbeitet. Dass hier jemand seinen Gegenstand von innen her kennt und dessen ästhetische Eigengesetzlichkeiten filmisch umzusetzen vermag, spürt man in jedem Bild. Wäre der Begriff vom Gesamtkunstwerk nicht anderweitig besetzt, könnte er als schemenhafter Ausdruck für die ästhetische Geschlossenheit des Low-Budget-Films dienen, der selbst seine schwierigen Entstehungsbedingungen in respektable Vorteile zu verwandeln weiß. Da etwa die Deutsche Bahn die Zusammenarbeit verweigerte, fand ein Großteil der Dreharbeiten in Warschau statt, was dem „Look“ des Films sehr zu Gute kommt. Die Kehrseite diese Hommage ist ihr Mangel an Distanz zur Writer-Welt: Die dramatischen Wendungen am Ende huldigen vielmehr den Szene-Mythen und deren Selbststilisierung. Das ist in sich konsequent, wird aber all jene nicht zu glühenden Verehrern der Graffiti-Kunst machen, für die pausenloses Kiffen oder die exzessive Selbsthingabe an jugendliche Oppositionsformen nicht zur Tagesordnung gehören. Erst in der Reflexion lassen sich doch auch Momente erspüren, in denen manche Codes und Verhaltensweise der Protagonisten vorsichtig in Frage gestellt werden, was insbesondere in der Anlage der Figuren aufschlussreiche Lesarten inspirieren kann.
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