Das wahre Leben ist anderswo

Drama | Schweiz 2006 | 84 Minuten

Regie: Frédéric Choffat

Drei Personen treffen auf Reisen flüchtig mit anderen Menschen zusammen: Eine Italienerin, die lange in der Schweiz gelebt hat, trifft im Nachtzug nach Süditalien auf einen exzentrischen Schaffner; ein junger Vater auf dem Weg zu seinem frühgeborenen Baby lässt sich auf einem Bahnhof mit einer Tschechin ein, eine Wissenschaftlerin nimmt sich auf dem Weg zu einem Vortrag eines Schwarzfahrers an. Im improvisationsfreudigen, von guten Darstellern getragenen Spiel mit unterschiedlichen Erzählformen und einem breiten emotionalen Spektrum überzeugt der Film als Etüde über Menschen, die durch Zufall von ihren geplanten Lebenswegen abweichen. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LA VRAIE VIE EST AILLEURS
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Les Films Oeil-Sud/Ruta/TSR
Regie
Frédéric Choffat
Buch
Frédéric Choffat · Julie Gilbert
Kamera
Séverine Barde
Musik
Pierre Audetat
Schnitt
Cécile Dubois
Darsteller
Sandra Amodio (Frau in Marseille) · Vincent Bonillo (Mann auf dem Weg nach Marseille) · Dorian Rossel (Mann auf dem Weg nach Berlin) · Jasna Kohoutova (Frau auf dem Weg nach Berlin) · Antonella Vitali (Frau auf dem Weg nach Neapel)
Länge
84 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Liquid Modernity – Flüchtige Moderne – nennt der britische Soziologe Zygmunt Bauman unsere Zeit, die von folgenlos-rasanten Vorübergehenden geprägt sei. Ein Film, der zum immer etwas unwirklichen Lebensgefühl passt, das Bauman beschreibt, müsste an öffentlichen Orten oder in öffentlichen Verkehrsmitteln spielen, an Schauplätzen der Bewegung, wo das unverbindliche Zusammentreffen und Auseinandergehen zur Norm wird. Genau dort situiert Frédéric Choffat seine Geschichte um drei Zufallspaare: Sein Film spielt in Zügen, Bahnhöfen und in einem Mittelklassehotel. Die handelnden Personen sind Menschen, die einen mehr oder weniger genauen Plan davon haben, wie ihr Leben ablaufen sollte – und die durch Zufall von den vorskizzierten Lebensmustern abkommen. Schon in der von Rimbaud entlehnten Zeile des Titels „Das wahre Leben ist anderswo“ schwingt neben Abenteuerlust die Furcht mit, das ersehnte „Anderswo“ könnte sich schnell als schon gehabtes „Hier“ entpuppen, die Aufbruchstimmung in jäher Ernüchterung münden. Dem Spielfilmdebüt des Schweizer Regisseurs Choffat kommt das geringe Budget durchaus zugute, denn das Schillernde, Wechselhafte, das die einzelnen Episoden prägt, kommt durch das flüchtig wirkende Medium Video vortrefflich zur Geltung. Im Drehbuch legten Choffat und seine Co-Autorin Julie Gilbert die Handlungsstruktur genau fest, entwickelten die Dialoge aber während der Dreharbeiten gemeinsam mit den Schauspielern. Durchweg überzeugende, improvisationsfreudige Darsteller tragen dieses Konzept. Ausgehend vom Genfer Bahnhof, auf dem Choffat drei der Akteure in einer meisterhaft fließenden Plansequenz zusammenführt – bis ihre Wege sich trennen –, werden drei Erzählstränge entwickelt, welche die drei Figuren nach Neapel, Berlin und Marseille führen und um eine ungewöhnliche Freundschaft bereichern. Eine junge Italienerin, die zeitlebens in der Schweiz gelebt hat, zieht mit wenigen Koffern nach Süditalien. Im Liegewagen trifft sie auf einen spleenigen Schaffner, der seinen Arbeitsplatz inklusive Minibar gegen ihren Willen in ihr Abteil verlegt. Paranoiker und Nervensäge in einem, verwickelt der Schaffner die Reisende in eine Diskussion, die sich vor allem um den Status von Emigranten in der Schweiz dreht. Richtung Norden unterwegs ist ein Mann, dessen deutsche Freundin unerwartet früh das gemeinsame Kind zur Welt gebracht hat. Nach kopflosem Aufbruch in der nächtlichen Tristesse des Dortmunder Hauptbahnhofs gestrandet, stößt er auf eine ebenso auf den Morgenzug wartende Tschechin, mit der er sich auf ein nächtliches Abenteuer einlässt. In der Dortmunder Episode gelingen Choffat ans Surreale grenzende Szenen. Bis zu dem Moment, in dem das Zufallspaar von einem Nachtwächter verfolgt wird, wirkt der Bahnhof wie ein ausgestorbener Planet. Die traumverlorene Stimmung weckt Erinnerungen an die Anita-Ekberg-Szenen in Fellinis „Das süße Leben“ (fd 9260), vor allem, wenn die Tschechin ihren neuen Bekannten über die Bahnhofssprechanlage mit Gesängen herbeilockt wie eine moderne Lorelei. Im Zug nach Marseille sitzt eine Wissenschaftlerin, die in Südfrankreich einen Vortrag halten soll. Sie bezahlt ihrem Gegenüber, einem Mann, der offenbar keinen Cent in der Tasche hat, die Fahrkarte. In Marseille will sie ihm sogar ein Hotelzimmer bezahlen, aber weil das Hotel ausgebucht ist, entschließt sie sich, ihn in ihrem Zimmer schlafen zu lassen. Wie in einem Ingmar-Bergman-Film brechen im Morgengrauen – die zum Erfolg verdammte Wissenschaftlerin hat die ganze Nacht lang über ihrem Konzept gegrübelt – verdrängte Ängste auf. Als Entwicklerin eines „Oxygenator“-Prototyps steht sie kurz vor dem Ziel, Investoren für eine Produktion ihrer Erfindung zu überzeugen. Jetzt beschleicht sie ein Gefühl der Sinnlosigkeit, das Gefühl, in einem Vakuum eingekapselt zu sein. Frédéric Choffat spielt mit Erzählformen: Die Begegnung der Wissenschaftlerin mit dem Schwarzfahrer entwickelt sich zum Zweipersonendrama, die Dortmunder Episode ist als romantische Liebesgeschichte angelegt, das Zusammentreffen des Liegewagenschaffners mit der Remigrantin tendiert zur absurden Komödie. Dank des breiten Gefühlsspektrums zwischen Verzweiflung, Hoffnung und Ekstase, das Choffat entfaltet, erweist sich „Das wahre Leben ist anderswo“ als gelungene Weiterentwicklung seines Kurzfilms „Genève-Marseille“ (2003), in dem sich ein Mann und eine Frau im Zug näherkommen – und wie die sechs Protagonisten im Nachfolgefilm einen kostbaren Moment „wahren Lebens“ kosten dürfen.
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