Als der Wind den Sand berührte

- | Belgien/Frankreich 2006 | 96 Minuten

Regie: Marion Hänsel

Ein Lehrer aus einem ostafrikanischen Dorf flieht mit Frau, drei Kindern und seiner kleinen Herde vor der Dürre. Beim Marsch durch die Wüste verliert er bis auf seine jüngste Tochter alle Angehörigen und auch die lebenswichtigen Tiere. Geschickt die Balance zwischen neorealistischer Darstellung und poetischer Überhöhung haltende Inszenierung, die sich nicht zuletzt durch die atmosphärisch-dichten Bilder und die authentischen Darsteller zu einem Meisterwerk des ethnisch-fiktiven Kinos verdichtet. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SI LE VENT SOULÈVE LES SABLES
Produktionsland
Belgien/Frankreich
Produktionsjahr
2006
Produktionsfirma
Man's Films/Asap Films
Regie
Marion Hänsel
Buch
Marion Hänsel
Kamera
Walther van den Ende
Musik
René-Marc Bini
Schnitt
Michèle Hubinon
Darsteller
Issaka Sawadogo (Rahne) · Carole Karemera (Mouna) · Asma Nouman Aden (Shasha) · Émile Abossolo M'bo (Lassong) · Marco Prince (Offizier)
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Arthaus (1:1,85/16:9)
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Diskussion
Die unerbittliche Hitze der afrikanischen Wüste bildete im Werk von Marion Hänsel schon einmal den Hintergrund für ein menschliches Drama. In „Dust“ (fd 25 534) zeichnete sie ein Psychogramm persönlichen Leids, das sie jetzt um soziale und aktuelle politische Komponenten erweitert. Der Prolog entführt in ein Dorf im ostafrikanischen Djibouti, wo der Lehrer Rahne, seine Frau Mouna und ihre beiden Söhne am Rande des Existenzminimums leben. Als auch noch eine Tochter geboren wird, rät der Dorfälteste dem Vater, das Kind zu ersticken, da er keine Zukunft für es sieht. Während Rahne zögert, flieht seine Frau mit dem Säugling in die Nacht, kommt am nächsten Morgen aber zurück. Rahne schlägt sie, kühlt dann aber ihre Wunde und fragt, welchen Namen das Baby tragen soll: „Shasha“. Schon diese Sequenz offenbart in prägnanten Bildern, fast wortlos in den ausdrucksstarken Gesichtern lesend, die existenzielle Not der Protagonisten. Sechs Jahre später hat sich ihre Situation noch verschlechtert: Auch die weit entfernten Brunnen sind versiegt, weshalb die Dorfbewohner gezwungen sind, ihre Heimat endgültig zu verlassen. Während die meisten nach Süden ziehen, macht sich Rahne mit den Seinen und einer befreundeten Familie sowie ihrer Ziegenherde und einem Dromedar Richtung Osten auf. Doch ihre Reise wird bald zum Martyrium: korrupte Soldaten fordern ein Tier pro Tag für Wasser und Schutz und führen die Karawane schließlich bewusst in die Irre. Skrupellose Rebellen zwingen Rahnes ältesten Sohn, sich ihnen anzuschließen. Shasha muss über ein Minenfeld laufen; der andere Bruder wird erschossen. Als Mouna die Kräfte verlassen, bleibt sie sterbend in der Wüste zurück. Rahne, seine Tochter und ihr Dromedar Chamelle aber werden von Entwicklungshelfern vor dem Verdursten gerettet. Während das Tier sich losreißt und zwischen den Dünen verschwindet, werden Vater und Tochter in ein Flüchtlingslager gebracht. Dort glaubt Shasha, ihren ältesten Bruder zwischen den Zelten gesehen zu haben, doch die Suche nach ihm bleibt erfolglos. Am Ende sagt Shasha: „Papa ist traurig, weil er Chamelle verloren hat.“ Ein ebenso grausamer wie wahrer Satz, zeugt er doch von Strukturen, in denen ein Menschenleben wenig zählt. Das „unwerte“ Mädchen, das zu Beginn für das Gemeinwohl geopfert werden soll, wird von Rahne später ohne Zögern in ein Minenfeld geschickt oder den Rebellen angeboten, bevor sich ihr Bruder mit stoischem Fatalismus für die Familie opfert. Niemand weint, als der jüngere Bruder erschossen wird, doch zucken die Menschen zusammen, wenn Tiere von den Rebellen niedergemäht werden. Ein Junge verdurstet geradezu im Anblick der vorbeiziehenden Karawane, die seinen Tod als naturgegeben hinnimmt. Diesem Sich-Ergeben in ein vorbestimmtes Schicksal steht die Ohnmacht angesichts der das ganze Land durchziehenden Gewalt gegenüber: eine Soldateska, die sich mit Alkohol und Techno-Musik zum Töten aufputscht und Menschen erschießt, nur um ihrer Tiere habhaft zu werden oder die Augen von Kindern zu „stehlen“, um sie an zahlungskräftige Weiße zu verkaufen. Auf der anderen Seite steht die in ihrem Leid allein gelassene Kreatur, die in der Figur von Rahne kulminiert, seinerseits ein Gefangener kultureller Traditionen, festgezurrter Geschlechterrollen und eines unreflektierten Stolzes. Issaka Sawadogo spielt diesen zerrissenen Charakter, dessen Verletzbarkeit immer wieder für Momente aufbricht, mit großer, erschütternder Intensität. Die Verzweiflung und Liebe, die sich in Carole Karemeras meist stummem Gesicht spiegelt, berührt ebenso wie das frische Spiel der kleinen Asma Nouman Aden. Zusammen mit den die Schönheit wie den Schrecken der Wüste authentisch einfangenden Bildern wahrt Hänsels Inszenierung die Balance zwischen neorealistischer Darstellung und poetischer Überhöhung. Ihr Film verdichtet die schrecklichen Nachrichten über die Probleme Afrikas zu einer fiktiven Geschichte, ohne dass die unmenschlichen Strukturen dabei moralisiert würden. Vielmehr geht es der Inszenierung um eine Emotionalisierung aus der Distanz heraus, die das Herz anspricht, aber den Verstand nicht ausschaltet.
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