Dokumentarfilm | Österreich/Deutschland 2007 | 104 Minuten

Regie: Ulrike Ottinger

Kulturgeschichte des Wiener Praters. In einer vielschichtigen Collage aus Wochenschaumaterial, alten Fotos und Postkarten, literarischen Kommentaren und der Stimme eines Off-Erzählers verknüpft sie historische Abrisse mit Beobachtungen in der Gegenwart, wobei der Blick einerseits auf technische und soziale Wandlungen gerichtet wird, andererseits erneut ihr Faible fürs Exotisch-Ungewöhnliche und für Gegenentwürfe zum westlichen, bürgerlichen Alltag zu Tage tritt. Ein schillerndes, ironisch gefärbtes Amalgam, in dem sich die Mentalitäts- und Alltagsgeschichte des Vergnügens quer durch alle sozialen Schichten, technischen Entwicklungen und Zeitgeist-Phänomene spiegelt. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
PRATER
Produktionsland
Österreich/Deutschland
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Kurt Mayer Film/Ulrike Ottinger Filmprod./WDR
Regie
Ulrike Ottinger
Buch
Ulrike Ottinger
Kamera
Ulrike Ottinger
Schnitt
Bettina Blickwede
Länge
104 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Ulrike Ottingers Werke sorgen oft allein schon mit ihrer extremen Überlänge für Aufsehen. Fast zwangsläufig ergab sich diese bei den Dokumentationen, mit denen die Weltenbummlerin in den letzten 20 Jahren reüssieren konnte: Filmische Forschungsberichte aus dem Fernen Osten wie „China – Die Künste – der Alltag“ (1985) oder „Taiga“ (fd 30572), elegische Chroniken des Abschieds wie in „Countdown“ (1990) von der DDR kurz vor der Währungsunion und „Exil Shanghai“ (fd 32800) von der jüdischen Welt des alten Europas in der pulsierenden Metropole der Kolonialzeit oder zuletzt 2002 das sechsstündige Opus „Südostpassage“ (fd 36876). Aber auch ihre Spielfilme weisen eine eigenwillige Maßlosigkeit auf, die bei den grotesk-fantastischen Spektakeln „Madame X – Eine absolute Herrscherin“ (fd 20780), „Freak Orlando“ (fd 23216) oder „Johanna D’Arc of Mongolia“ (fd 27505) zwischen Monomanie und Stereotyp pendelt. In einer Mischung aus ethnologischem Dokumentarspiel und fiktiver Reisereportage werden Mythen und Anomalien in Natur, Geist und Religion episodenhaft abgehandelt, wird Exotisches und Abseitiges zelebriert. Ein Kompendium dieser skurrilen bis albtraumhaften Inkarnationen bildet „Freak Orlando“ mit seinen 160 Rollen: Gnome, Riesen, Feuerspeier und Fakire, Doppelköpfige und siamesische Zwillinge, Ledermänner und Bartfrauen, Hermaphroditen und eine Frau ohne Unterleib, Akrobaten und Artisten – Freaks, die in der Vergangenheit abgeschoben, geächtet, verfolgt, allenfalls auf der Kirmes zu bestaunen waren. Kein Wunder, dass sich Ulrike Ottinger in ihrem aktuellen Doku-Essay der Kulturgeschichte des ältesten Vergnügungsparks der Welt widmet, den sie in ein Kinoerlebnis umzuwandeln versteht: der Prater – Wiener Rummelplatz der Sensationen und Attraktionen. Die althergebrachte Verbindung zwischen Jahrmarkt und Kino – der Nachkomme einer Prater-Dynastie berichtet davon, wie seine Vorfahren um die vorletzte Jahrhundertwende das Kino für den Prater als Attraktion entdeckten und daraus eine Kinokette wurde – kommt dabei dieser Absicht zugute. Illusionsgeschäft und Simulation auf der einen Seite, Sensationslust und Imagination auf der anderen bildeten von jeher die Antriebsfeder der Freilichtbühne Prater wie der Cinedome dieser Welt. Allesamt Wunsch- und Zeitmaschinen, die dem Besucher imaginierte Reisen in ferne Länder und längst vergangene Epochen ermöglichten, ihm ein Potpourri aus rauschhaften Erlebnissen, gruseligen Darbietungen und staunenswerten Abnormitäten boten. Ob live oder in bewegten Bildern – immer „bigger than life“. Was diesen „Reisefilm“ von Ulrike Ottingers früheren Mammutfilmen unterscheidet, ist außer seiner normalen Länge der Umstand, dass sie das Prater-Universum gar nicht verlassen muss, um in diesem wie in „Exil Shanghai“ exterritorialen Ort die Zuschauer in eine kurzweilige Erlebniswelt zu entführen, die in Raum und Zeit gedehnt ist. Ein „Mann ohne Unterleib“, der um 1900 mit Frau und Kindern eine Vielzahl bis heute betriebener Vergnügungsunternehmen gründete, festgehalten auf Zelluloid für ein Aktualitätenmagazin, kommt in ihr ebenso vor wie Manager eines gastronomischen Nobelrestaurants, deren Vorväter kaiserliche Jagdtreiber waren, oder der Prater-Heinzi, der anfällige Illusionsapparate repariert. Ohne sich von der Stelle zu bewegen, konnten die früheren Praterbesucher in Klein-Venedig, einer maßgetreu nachgebauten Miniaturstadt, Postkarten in alle Welt verschicken. Las Vegas nimmt sich da wie eine billige Imitation aus. Auch fremde Völker kampierten auf dem Gelände, etwa 1896 mehrere Monate das afrikanische Aschanti-Dorf, dessen exotische Wohn- und Essgewohnheiten der kolonialistischen Neugier freigegeben wurden. Sensationslust und Abgrenzung mit wohligem Schauer konnten in dem Wachsfigurenkabinett und einem Panoptikum befriedigt werden, das von Liliputanern bis zu siamesischen Zwillingen das Personnage aus „Freak Orlando“ versammelt hat. In einer vielschichtigen Collage aus Wochenschaumaterial, alten Fotos und Postkarten, literarischen Kommentaren und der Stimme eines Off-Erzählers verknüpft die Autorin historische Abrisse mit Beobachtungen in der Gegenwart, die den Prater als „Modell im Wandel der Zeit, Moden und Technik“ ausweisen: vom Kasperletheater für die ganz Kleinen über Schießbudenvergnügen bis zu High-Tech-Schleuderattraktionen. Wer sich kein Auto leisten kann, dem winkt ein Miniaturrennen in der Autobahn; wer einen Testversuch mit Astronauten teilen will, kann im „Ejection Seat“ in den Himmel geschossen werden. Das Kameraauge ist immer hautnah dabei, katapultiert den Zuschauer an die Simulationsstätte und nutzt all die Artefakte samt ihrer Mechanik für waghalsige Bewegungen der fest montierten Kamera, inklusive eines Panoramablicks vom Riesenrad über die Dächer von Wien. Selbstreferenzielle Zitate dürfen bei der Filmemacherin Ottinger, die auf der Bühne Stücke von Elfriede Jelinek inszeniert hat, in dem Illusions- und Imitationstheater ebenfalls nicht fehlen. So lässt sie in einem Spiegelkabinett das Ex-Modell und ihre Dorian-Gray-Darstellerin Veruschka, verkleidet als Barbarella, in Richtung eines brüllenden Kunststoff-Gorillas laufen und Jelinek an der Seite eines King Kong aus Pappmaché die Beute imitieren. Ironisch gefärbte Fiktionen, die sich mit den Angst- und Lustschreien namenloser Besucher in der mechanischen Parallelwelt des Praters vermischen. Ein schillerndes Amalgam, in dem sich die Mentalitäts- und Alltagsgeschichte des Vergnügens quer durch alle sozialen Schichten, technischen Entwicklungen und Zeitgeist-Phänomene spiegelt.
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