Drama | Ägypten/Frankreich 2007 | 126 Minuten

Regie: Youssef Chahine

Der ägyptische Altmeister Youssef Chahine (1926-2008) führt in ein Stadtviertel von Kairo, das einst für das friedliche Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft und Konfession bekannt war, inzwischen aber von sozialen und politischen Spannungen geprägt ist. Vor diesem Hintergrund entwickelt sein Film die für ganz Ägypten verallgemeinerbare Fabel eines jungen Staatsanwalts, der gegen einen korrupten und machtgierigen Polizeioffizier antritt und ihn zu Fall bringt. Durchsetzt mit Elementen einer hoch emotionalen Liebesgeschichte und der Komödie, erweist sich der Film als didaktisches Pamphlet, das auf eine Rückkehr zu bürgerlichen Regeln und Tugenden, zu Ordnung und Ehrlichkeit pocht. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
HEYA FAWDA | LE CHAOS
Produktionsland
Ägypten/Frankreich
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
Misr International Films/3B Prod./Sunny Land Film/France 2 Cinéma
Regie
Youssef Chahine · Khaled Youssef
Buch
Nasser Abdel-Rahmane
Kamera
Ramses Marzouk
Musik
Yasser Abdel-Rahman
Schnitt
Ghada Ezz El Din
Darsteller
Khaled Saleh (Hatem) · Mena Shalaby (Nour) · Youssef El Sherif (Sherif) · Hala Sedky (Wedad) · Hala Fakher (Bahia)
Länge
126 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama

Heimkino

Verleih DVD
Anolos (1:1,33/4:3/Deutsch DD 5.1/Engl.)
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Diskussion
Der jüngste Film des ägyptischen Altmeisters Youssef Chahine führt in das Kairoer Stadtviertel Choubra, das lange Zeit als Musterbeispiel für das friedliche Zusammenleben von Menschen verschiedener Herkunft und Konfession galt. Das hat sich in den letzten Jahren verändert: Ökonomischer, sozialer und politischer Druck bewirkte, dass die einst viel beschworene relative Harmonie weitgehend verschwunden ist und, wie Chahine sagt, „Spannungen, Streits, Untaten, sogar Verbrechen an der Tagesordnung“ sind. Für den 81-jährigen Regisseur ist Choubra wie eine Art Welt im Wassertropfen; das Chaos, in dem das Viertel zu versinken droht, spiegelt für ihn zugleich den moralischen Niedergang Ägyptens. Sein Film bäumt sich mit aller Kraft dagegen auf, er ist aus dem Zorn des alten Mannes geboren, ergeht sich aber nicht in Hoffnungslosigkeit, sondern beschwört noch einmal die Selbstreinigungskraft der bürgerlichen Gesellschaft Ägyptens. Das auf Gerechtigkeit sinnende Publikum soll gestärkt aus dem Kino kommen, bereit zur sittlichen Abwehr einer korrupten und gewalttätigen Machtmaschinerie, die auf demokratische Spielregeln längst keine Rücksicht mehr nimmt. Chahine und sein junger Co-Regisseur Khaled Youssef wollen mit ihrer Geschichte ein großes Publikum erreichen. Das mag ein Hauptgrund dafür sein, dass sie die Fabel und ihre Figuren eher holzschnittartig als psychologisch fein ziseliert anlegen. Die Charaktere werden, wie in einer Seifenoper, von der ersten Sekunde an klar in Gut und Böse eingeteilt: Held ist der junge Sherif, Assistent eines Staatsanwalts, der alles tun will, um mit Machtmissbrauch und Korruption aufzuräumen. Sein Gegenspieler Hatem, ein Polizeioffizier, lässt Demonstranten in finstere Zellen einweisen, peitscht sie eigenhändig aus und misshandelt sie mit Elektroschocks. Überdies hat es Hatem auf Nour, die hübsche Tochter der Nachbarin abgesehen, die er heimlich durchs Badfenster beim Duschen beobachtet und auch sonst obsessiv belauert. Nour wiederum ist in Sherif verliebt, und gerade in dem Moment, als Sherif diese Liebe auch zu erwidern beginnt, wird das Mädchen von Hatem verschleppt und vergewaltigt. Am märchenhaft glücklichen Ende des Films sind es die resoluten Mütter von Sherif und Nour, die ihre Stimme erheben und den Volksaufstand gegen die Untaten des Bösewichts anführen. Nicht so sehr die gequälten politischen Häftlinge, sondern das geschundene Mädchen bringt das Fass zum Überlaufen. In diese plakative Erzählung mit ihren zielgerichteten Emotionen integrieren Chahine und Youssef immer wieder komische Elemente. So wird Hatem gezielt der Lächerlichkeit preisgegeben: Während er Schmiergelder kassiert, stopft er eine Plinse nach der anderen in seinen Rachen; um seine Halbglatze zu verdecken, lässt er sich die merkwürdigsten Perücken aufpfropfen; ein Liebeswasser, das er sich aufschwatzen ließ und das er auf die Schwelle der Nachbarin sprüht, bleibt ohne Wirkung; und selbst die Hure, die er um Rat bittet und über Nacht aus dem Gefängnis holt, hintergeht ihn. Khaled Saleh, der alle Register komödiantischer Spielfreude zieht, darf dem dicklichen, jähzornigen Polizeioffizier in einer Szene sogar ein biografisches Hinterland geben: Sein Handeln, so behauptet er, gehe auf tragische Kindheitserlebnisse zurück. Der Film lässt offen, ob diese Geschichten vom einsamen Waisenjungen, der ein Leben lang nach Liebe und Zärtlichkeit sucht, wahr oder vielleicht doch nur erlogen sind, um bei Nour Mitleid zu erheischen. Zumindest bekommt die Figur in diesem Moment eine Tiefe, die sie sonst kaum hat. „Chaos“ ist ein Film wie ein Pamphlet, das zur Rückkehr zu bürgerlichen Regeln und Tugenden, zu Ordnung und Ehrlichkeit aufruft. Noch glaubt Chahine in der Mittelschicht die Kraft entdecken zu können, den Staat und seine Instrumente zu reformieren. Dazu, so plädiert der Film, ist aktiver Widerstand nötig. Das ergebene Warten auf die Erfüllung von Glücksverheißungen, wie sie ein Scheich predigt („Der Islam ist die Lösung“), bringt ebenso wenig wie das Abdriften in egozentrische „westliche“ Genusssucht, wie sie Sherifs frühere Freundin Sylvia mit ihren Tatoos, dem Minirock und dem abgetriebenen Baby verkörpert. Nicht die hedonistische Abkehr von der Politik, sondern das aktive Eingreifen führt zur Läuterung. Chahine gibt dafür in „Chaos“ ebenso gefühlige wie didaktische Handreichungen.
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