Mr. Shi und der Gesang der Zikaden

Tragikomödie | USA 2007 | 83 Minuten

Regie: Wayne Wang

Ein Rentner aus Peking besucht seine in den USA lebende Tochter, die sich von ihrem Mann getrennt hat. Ihre Gespräche scheitern zunächst, weil sie zu keiner gemeinsamen Sprache finden und die Tochter sich abkapselt. Eine melancholische Tragikomödie in statischen Bildern über eine Sprachlosigkeit, die der emotionalen Distanz geschuldet ist. Dabei gibt der hintergründige Film Denkanstöße und wird von einem fabelhaften Hauptdarsteller getragen. (SIGNIS-Preis, San Sebastián 2007) (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
A THOUSAND YEARS OF GOOD PRAYERS
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2007
Produktionsfirma
North by Northwest Ent./Entertainment Farm
Regie
Wayne Wang
Buch
Yiyun Li
Kamera
Patrick Lindenmaier
Musik
Lesley Barber
Schnitt
Deirdre Slevin
Darsteller
Henry O (Mr. Shi) · Faye Yu (Yilan) · Vida Ghahremani (Madame) · Pavel Lychnikoff (Boris) · Feihong Yu (Yilan)
Länge
83 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Tragikomödie
Externe Links
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Diskussion
Nach der Hollywood-Großproduktion „Töchter des Himmels“ (fd 30 776) und den Paul-Auster-Independent-Verfilmungen „Smoke (fd 31 577) und „Blue in the Face“ (fd 31 698) drohte der Sino-Amerikaner Wayne Wang in die Ecke eines Genre-Routiniers abzurutschen und schien sich von seinem anfänglich ureigenem Metier, der Inszenierung konfliktreicher Begegnungen zwischen Kulturen und Traditionen, verabschiedet zu haben. Doch 2007 ließ seine Verfilmung der Kurzgeschichte „A Thousand Years of Good Prayers“ von Yiyun Li aufhorchen, die in San Sebastian Preise für den „besten Film“ und die „beste männliche Hauptrolle“ sowie den Preis der SIGNIS-Jury der internationalen katholischen Filmorganisation erhielt und nun unter dem Titel „Mr. Shi und der Gesang der Zikaden“ in die deutschen Kinos kommt. Auf den ersten Blick erzählt der Film eine schlichte Geschichte: Herr Shi aus Peking, ein Pensionär, der noch niemals die Volksrepublik China verlassen hat, besucht seine Tochter Yilan in einer sehr aufgeräumten Stadt an der amerikanischen Ostküste. Die hat sich von ihrem chinesischen Mann scheiden lassen, und nun will Herr Shi nach dem Rechten sehen, der Tochter unter die Arme greifen und verstehen, was sie zu diesem Schritt veranlasst hat. Obwohl es Herrn Shi nicht schwer fällt, Kontakte zu knüpfen – seine Vergangenheit als Raketenwissenschaftler ist die perfekte Visitenkarte, um Gespräche mit Fremden in Gang zu setzen –, hapert es bei der Verständigung mit der Tochter. Die reagiert auf den Besuch reserviert, weicht Gesprächen aus. Da helfen auch die leckeren Gerichte des Herrn Shi wenig, der seine Tochter mit chinesischen Köstlichkeiten zu verwöhnen versucht. Doch dann kulminieren die Ereignisse: Herr Shi, der seine Tochter ein wenig ausspioniert, erfährt, dass sie einen russischen Geliebten hat, der Beziehung jedoch keine Zukunft einräumt. Etwa zur gleichen Zeit lernt er auf seinen einsamen Spaziergängen im Park eine Exil-Iranerin in seinem Alter kennen, die wie er nur bruchstückhaft Englisch spricht. Beide erzählen sich von ihrem Leben und ihrem Leid – und obwohl Madame ihre Geschichte zu großen Teilen in Farsi erzählt und Herr Shi in Mandarin zu philosophischen Gedankengängen über den Gesang der Zikaden ausholt, verstehen die beiden sich prächtig. Doch dann verschwindet die Frau – abgeschoben in ein Altersheim. Herrn Shi bleiben nur noch die Gespräche mit seiner Tochter, doch das setzt voraus, zunächst die richtigen Worte zu finden. Als dies endlich gelingt, können endlich Missverständnisse aus dem Weg geräumt und Familiengeheimnisse aus der Vergangenheit ins rechte Licht gerückt werden. Wayne Wangs wundervoller, äußerst leiser, inszenatorisch zurückgenommener Film dreht sich weniger um Generations- und Traditionsprobleme, sein Hauptanliegen ist das Problem der Sprachlosigkeit, die auf vielen Ebenen – mitunter recht humorvoll – zum Ausdruck gebracht wird. Da ist zunächst Herr Shi, der in seiner neuen englischsprachigen Umgebung trotz Notizblock für Vokabeln hilflos wirkt und sich mit der jungen Nachbarin am Pool in absurde Gespräche verzettelt; aber auch Vater und Tochter können nicht kommunizieren: Sie sprechen zwar dieselbe Sprache, doch da die emotionale Übereinstimmung fehlt, müssen ihre Gespräche aneinander vorbeigehen. Wie schwierig Kommunikation sein kann, zeigt die Szene, in der zwei Missionare Herrn Shi heimsuchen: Sie sprechen von Glauben und Gott; er, überzeugter Kommunist, spricht von Glauben und Marx. Auf dieser Grundlage muss jedes Gespräch fehlschlagen. Als wunderschönes Gegenbeispiel dienen die wenigen Treffen mit Madame, in denen die halbdunkle Wohnung Yilans dem lichtdurchfluteten Park weichen muss und die überzeugend darlegen, dass Verständigung respektive Verständnis nicht in erster Linie auf Vokabeln beruht. Kameramann Patrick Lindenmaier und Szenenbildner Vincent de Felice unterstreichen diese Aussage auf das vortrefflichste. Lindenmaiers statische, streng kadrierte Bilder versinnbildlichen die emotionale Starre dieses Kammerspiels, die durch die Wahl der Haupt-Location, Yilans Wohnung, noch verstärkt wird. Häufig trennt eine Wand Vater und Tochter. Während sie in ihrer halbdunklen Küche arbeitet, sitzt er im noch dunkleren Wohnzimmer, beide unterhalten sich, aber reden nicht wirklich miteinander. In der Mitte des Filmbildes sorgt eine Wand für eine mehr als symbolische Trennung. Ein wunderbarer Film, der von von einem glänzenden Hauptdarsteller getragen wird: Dessen stoische Miene bringt eindrücklich die Verletzungen und Enttäuschungen der Vergangenheit zum Ausdruck und hellt sich in den Gesprächen mit Madame auf der Parkbank nur um Nuancen auf, um dennoch ein tief empfundenes Glücksgefühl auszustrahlen.
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