Achterbahn (2008)

Dokumentarfilm | Deutschland 2008 | 98 Minuten

Regie: Peter Dörfler

Der Dokumentarfilm zeichnet das wechselvolle Leben des Schaustellers Norbert Witte und seiner Familie nach, die nach zahlreichen Pleiten Wittes und unermüdlichen Neuanfängen im Jahrmarktsgeschäft in verschiedensten Ländern an einem missglückten Drogendeal zu zerbrechen drohte, der dem Sohn eine langjährige Haftstrafe in Peru einbrachte. Fesselt der Film schon allein durch die turbulente Vita der zentralen Person, gewinnt er zusätzlich durch seine Sensibilität im Umgang mit den Protagonisten sowie seine bestechende formale Gestaltung, nicht zuletzt die atmosphärische Kameraarbeit. Das ebenso spannende wie dichte Porträt einer widerspruchsvollen Persönlichkeit. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
Rohfilm/Strandfilm/ZDF-arte
Regie
Peter Dörfler
Buch
Peter Dörfler
Kamera
Peter Dörfler
Musik
Bernd Schultheis
Schnitt
Vincent Pluss · Peter Dörfler
Länge
98 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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IMDb | TMDB

Diskussion
Umgekippte Dinosaurier, eine surreale Landschaft. Dann in Zeitlupe eine Achterbahnfahrt vor bunter Lichterkulisse, dazu der herzzerreißende, melancholische Song „Elephant Gun“ der Band „Beirut“. Nur wenige Minuten benötigt Dokumentarfilmer Peter Dörfler, um in Bann zu ziehen. Ein Bann, der bis über den Abspann hinaus hält. Weit mehr als nur eine billig zu habende Metapher ist dabei die Achterbahn in Titel und Eingangssequenz: Welches Bild könnte das Auf und Ab im Leben des Schaustellers Norbert Witte besser beschreiben? Davon erzählt „Achterbahn“: Von dem einstigen Rummelkönig, der dadurch bekannt wurde, dass er sich nach seiner Pleite mitsamt den Fahrgeschäften des Berliner „Spreeparks“ in einer Nacht-und-Nebel-Aktion nach Südamerika verschiffen ließ. Was freilich nur einen Bruchteil der an unglaublichen, grotesken und tragischen Wendungen reichen Lebensgeschichte des Norbert Witte darstellt. Nachdem 1981 auf einem Hamburger Rummel sieben Menschen mit einem seiner Fahrgestelle tödlich verunglücken, zieht Familie Witte jahrelang über jugoslawische und italienische Jahrmärkte. Kurz nach der Wende übernimmt Witte den „Vergnügungspark Plänterwald“, will auf dem schon zu DDR-Zeiten als Rummelplatz genutzten Areal den größten Jahrmarkt Deutschlands errichten. Anfänglichen Erfolgen und Millionenkrediten der Stadt Berlin zum Trotz muss das Unternehmen 2001 Insolvenz anmelden; die Familie geht nach Peru, wo der Neustart eines „Lunaparks“ scheitert. Völlig verschuldet lässt sich Witte auf einen Drogendeal ein, bei dem 180 Kilogramm Kokain im Mast des „Fliegenden Teppichs“ nach Deutschland geschmuggelt werden sollen. Das „Material“, das diese Biografie Dörfler bot, war also schon die halbe Miete. Dennoch hätte in den Händen eines weniger begabten Regisseurs daraus leicht ein reißerisches Stück im Stil einer Boulevard-TV-Reportage werden können; nicht von ungefähr war Witte jahrelang ein beliebtes Objekt der Berliner Regenbogenpresse. Doch Dörfler gelingt eine sensible, atmosphärische und sehr filmische Annäherung. Deutlich zu spüren ist denn auch das Vertrauen, das die am Film beteiligten Familienmitglieder, Norbert Witte, seine mittlerweile von ihm getrennt lebende Frau Pia, die Tochter Sabrina und der Sohn Marcel, dem Regisseur entgegenbringen. Was umso erstaunlicher ist, weil es hier nicht nur um zerstörte Unternehmerträume, Millionenschulden und Drogenschmuggel geht, sondern auch um tiefe Risse durch die lange unerschütterlich zusammenstehende Familie. Sohn Marcel sitzt wegen des gescheiterten Drogendeals in einem peruanischen Knast – zu 20 Jahren wurde der junge Mann verurteilt, unter menschenunwürdigen Haftbedingungen muss Marcel Tag für Tag um sein Leben fürchten. Eine Tatsache, die Pia Witte ihrem Mann nicht verzeihen kann. Norbert Witte selbst hatte Glück im Unglück und wurde während eines Deutschlandaufenthalts festgenommen: Bereits im Mai 2008 wurde er nach nur vier Jahren Haft entlassen. Ein ebenso feines Gespür wie beim Umgang mit seinen Protagonisten legt Dörfler bei Dramaturgie und formaler Gestaltung an den Tag. Verwunschene Einblicke in eine wie aus der Zeit gefallene Welt gewährt die Kamera, wenn sie den seit Wittes Flucht unbewirtschafteten Vergnügungspark im Plänterwald einfängt: Der Wind in den Bäumen, ein in Entengrütze vor sich hin rostender Feuerlöscher, die menschenleere Kulisse aus Schwanenbooten, Karussellen und Kassenhäuschen. Mehr als an der Chronologie der wechselvollen Ereignisse rund um diesen Schauplatz ist „Achterbahn“ an dem Porträt eines Mannes interessiert, der immer „mehr“ wollte, mit Leidenschaft, Leichtsinn und Charme zu fesseln und scheinbar jegliches Hindernis aus dem Weg zu räumen vermochte. Und schließlich fast an dem zerbricht, was er seinem Sohn angetan hat. Aber eben nur fast. Mit das Unglaublichste sind der Pragmatismus und die Energie, mit der sämtliche Familienmitglieder, namentlich Mutter Pia, weitermachen, nach Schicksalsschlägen, Pleiten und Fehlentscheidungen immer wieder von vorne anfangen, statt sich in Gejammere und Verzweiflung zu ergehen. Insofern kann man „Achterbahn“ auch als Kommentar zur aktuellen Krise lesen. Doch der Film ist weit mehr als das: Das extrem spannende, dichte und nicht zuletzt unterhaltsame Dokument einer Existenz zwischen Größenwahn und Charisma.
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