Das Zimmer im Spiegel

Drama | Deutschland 2009 | 108 Minuten

Regie: Rudi Gaul

Eine Jüdin wird während der NS-Zeit von ihrem Mann in einem Zimmer in einem leerstehenden Dachgeschoss versteckt. Der einzige Kontakt der Frau zur Außenwelt sind ihr Mann, der ihr Essen bringt, ihre Bücher sowie Geräusche von Nachbarn und von der Straße. Doch in dem Zimmer steht auch ein geheimnisvoller Spiegel, der sich in seltsame Welten öffnet. Klaustrophobisches surreales Kammerspiel, das sein geringes Budget durch seine einfallsreiche und suggestive Inszenierung wett macht. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Schattengewächs Filmprod.
Regie
Rudi Gaul
Buch
Rudi Gaul
Kamera
Christian Hartmann
Musik
Konstantin Wecker · Indigo Landscapes
Schnitt
David Purviance
Darsteller
Kirstin Fischer (Luisa) · Eva Wittenzellner (Judith) · Maximilian Berger (Karl) · Klaus Münster (Bassist)
Länge
108 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
MFA/Ascot/Elite (16:9, 1.78:1, DD5.1 dt.)
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Diskussion
Zunächst sind nur die Augen zu sehen, dann wird das unbewegte Gesicht einer Frau sichtbar, zurückhaltend koloriert, fast schwarz-weiß: Das Muster der Blümchentapete passt zum Morgenmantel, wie in einem Gemälde verschwinden die Ränder des Ausschnitts, der fleckigen, abgerissenen Tapete, des Zimmers, des Betts, auf dem die junge Frau aufrecht sitzt, in Schwarz. „Das Wunderbare am Fantastischen ist, dass das Fantastische nicht existiert, alles ist real“, zitiert Regisseur Rudi Gaul im Presseheft einen Satz aus André Bretons Surrealistischem Manifest. Die Surrealisten machten sich Anfang des 20. Jahrhunderts daran, mit programmatischer Leidenschaft die bestehende Weltordnung aus den Fugen zu heben. Letzteres wäre dem engagierten Team um den Autor und Regisseur Gaul ebenfalls zuzutrauen; mit programmatischer Leidenschaft folgt es zumindest der poetischen Vision der Surrealisten. Eine Jüdin wird im München der 1940er-Jahre von ihrem Mann in dem leer stehenden Dachgeschoss eines Mietshauses versteckt. Dort gibt es ein spartanisches Zimmer, Tisch, Stuhl, Schrank, Bücherregal in Weiß, eine kleine Küche, ein heruntergekommenes Badezimmer und inmitten des Zimmers einen großen, goldgerahmten Spiegel. Zunächst kommt noch ihr Mann vorbei und bringt ihr unter der Gefahr, entdeckt zu werden, Kaffee und Bücher. Die Bücher sind Luisas Tor zur Welt, neben den Stimmen der Nachbarn, die sie sich mit einem Stethoskop durch die Wand erlauscht, und den Ereignissen, die von der Straße in ihre Dachkammer hinaufdringen. Der Zuschauer bleibt den ganzen Film lang bei Luisa im Zimmer, es gibt keinen Ausweg, keine auktoriale Perspektive. Zunächst folgt er noch vermeintlich realen Geschehnissen, die sich nach und nach in einem Bewusstseinsstrom auflösen. Irgendwann kommt Luisas Mann nicht mehr, an seiner Stelle taucht die mondäne Judith auf: im roten, bodenlangen Abendkleid unter einem schweren Ledermantel. Die Geschichte der Widerstandskämpferin und Schauspielerin über die Umstände, die sie hergeführt haben, klingt plausibel. Doch sie ist diejenige, die Luisa die fantastische Welt hinter dem Spiegel eröffnet, sie in einen Jazzkeller entführt, sie schließlich verführt. Ist Judith real oder Alter Ego, eine Figur aus Luisas Büchern, erotischer Traum oder Hungerdelirium? Mit nur 50.000 Euro Budget, ohne Fernsehbeteiligung und Filmförderung und auch ohne das Netzwerk einer Filmhochschule hat der Quereinsteiger Gaul den Film erkämpft. Er hat Konstantin Wecker gewonnen, als Sprecher einer der Stimmen, die durch die Wand dringen, und als Komponisten der Jazz-Musik. Zwei Orchester haben für den Film unentgeltlich Tschaikowsky und Beethoven eingespielt. In einer Abrissvilla ohne Heizung wurde „Das Zimmer im Spiegel“ im Winter gedreht, was auch jenseits der Nacktszenen eine Herausforderung gewesen ist. Dafür waren dann künstlerische Kompromisse allenfalls den Umständen geschuldet – aber keinem Fernsehredakteur. Freimütig bedient sich Gaul in der Literatur- und Filmgeschichte: Ein weißes Kaninchen zeigt Luisa hoppelnd den Weg zurück aus dem Jazz-Keller durch den Spiegel – es hat auch Alice den Weg ins Wunderland gewiesen, in der Fortsetzung fand sich dann „Alice hinter den Spiegeln“. Melodram, Film noir, Stummfilmästhetik, expressionistischer Film und Theater fügen sich zu einem klaustrophobischen Kammerspiel – aber auch zu einem Plädoyer für die Kraft der Imagination. Auch der Raum verändert sich im Verlauf des Films. Zu Beginn fällt noch helles Licht durch die Fenster; manchmal blickt Luisa auf die Bäume draußen im Wechsel der Jahreszeiten. Die schwarzen Risse in der Tapete fressen sich vorwärts, man kann ihnen beim Wachsen zusehen. Am Ende bleibt nur ein vergittertes Oberlicht – das Versteck ist endgültig zum Gefängnis geworden.
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