Tanzträume - Jugendliche tanzen KONTAKTHOF von Pina Bausch

Dokumentarfilm | Deutschland 2009 | 92 Minuten

Regie: Anne Linsel

Ein Jahr lang erarbeiteten knapp 50 Wuppertaler Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren aus unterschiedlichen Verhältnissen das Tanztheaterstück "Kontakthof" von Pina Bausch, bevor es im November 2008 aufgeführt wurde. Die fesselnde Dokumentation beschreibt die intensive Annäherung an den Stoff, vermittelt die Begeisterung der Jugendlichen und macht ebenso sicht- wie nachempfindbar, wie die künstlerisch anspruchsvolle Auseinandersetzung mit Gefühlen, Ängsten, Schüchternheit und Scheu die Erlebnis- und Gefühlswelt aller Beteiligten bereichert. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
TAG/TRAUM Filmprod./WDR
Regie
Anne Linsel
Buch
Anne Linsel
Kamera
Rainer Hoffmann
Schnitt
Mike Schlömer
Länge
92 Minuten
Kinostart
18.03.2010
Fsk
ab 6; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm | Tanzfilm
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
Real Fiction (16:9, 1.85:1, DD5.1 dt.)
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Diskussion
Der Titel von Pina Bauschs Tanztheater-Klassiker aus dem Jahr 1978 ist programmatisch und durchaus wörtlich zu nehmen: „Kontakthof ist ein Ort, an dem man sich trifft, um Kontakt zu suchen“, erklärte die Tänzerin und Choreografin. „Sich zeigen, sich verwehren. Mit Ängsten. Mit Sehnsüchten. Enttäuschungen, Verzweiflungen. Erste Erfahrungen. Erste Versuche. Zärtlichkeiten und was daraus entstehen kann.“ Das seinerzeit Aufsehen erregende Stück „Kontakthof“ erwies sich als spannendes Experiment, künstlerischen Ausdruck eng mit grundlegenden menschlichen Empfindungen in Einklang zu bringen: mit Ängsten und Sehnsüchten, die existenziell miteinander ringen, in ständigem Widerstreit stehen und doch früher oder später vermittelt werden müssen, damit Menschen zu sich selbst, aber ebenso zu anderen finden. Mehr als 20 Jahre später variierte Pina Bausch ihr Stück, indem sie seine „Tauglichkeit“ durch alte Menschen überprüfen ließ: Frauen und Männer, die meisten schon in den Siebzigern, meldeten sich auf ein Inserat, in dem Pina Bausch für eine Neuinszenierung des Stücks tanzbegeisterte Senioren suchte. Schon damals resultierte daraus ein Dokumentarfilm, „Damen und Herren ab 65“ (fd 35 891), der die Lernerfolge der (Laien-)TänzerInnen festhielt, ihre wachsende Begeisterung, die Lust an der Herausforderung sowie ihre Freude angesichts der eigenen Leistung. Gerade diese kathartische Wechselwirkung von Tanz und Emotion, bei der innere wie äußere Bewegungen in einen langen, hart erarbeiteten Austausch treten, mag Pina Bausch im Jahr 2008, 30 Jahre nach der Premiere, zu einem weiteren „Kontakthof“-Experiment veranlasst haben: das alte Stück neu entdecken und erobern zu lassen von knapp 50 Wuppertaler Schülern zwischen 14 und 18 Jahren, die keinerlei Tanzerfahrungen hatten und allein von der Neugier auf Pina Bauschs Einladung angelockt wurden. Etwa ein Jahr lang kamen die Jugendlichen aus zwölf verschie‧den‧en Schulen und unterschiedlichen ethnischen wie sozialen Hintergründen regelmäßig zu Proben zusammen, tauschten sich aus, übersprangen alle Hemmnisse und fanden allmählich Vertrauen zu sich, zu den Mittänzern und vor allem zu den Tanzlehrerinnen Bénédicte Billiet und Josephine Ann Endicott, die mit ihnen das anspruchsvolle Stück einstudierten. Dieses fragile und hoch sensible, am Ende aber alles entschei‧den‧de Verhältnis zwischen Schülern und Lehrerinnen fängt die Dokumentation aufmerksam ein: Manchmal sind es nur Blicke, knappe Reaktionen im Gesicht oder auch mit dem Körper, dann wieder kurze, vertrauensvolle Gespräche mit „ihrer“ Jo, die mal streng, mal verständnisvoll ist, mal die erfahrene Choreografin, mal die einfühlsame (Tanz-)Therapeutin gibt, oft auch Freundin und Ersatzmutter ist. „Wo ist der Blick? Wenn ich den Blick nicht habe, können wir das alles vergessen“, fordert sie schon früh, um im Lauf der Proben zu entdecken, wie sehr sie selbst angerührt ist von den Erfolgen und der Begeisterung „ihrer“ Eleven. „Kontakthof“ für Jugendliche, so erkennt sie, sind komplett andere Geschichten, weil die „Kids“ trotz ihres jungen Alters bereits alle Facetten der auszudrückenden Gefühle erfahren oder erlitten haben. Der Film dokumentiert als dichte, kurzweilige Reportage nicht nur den kreativen Arbeitsprozess bis zur Premiere im November 2008, sondern wirft auch Schlaglichter auf die Lebensumstände einiger Jugendlicher, darunter ein charmanter, lebensoffener Roma-Junge aus Bosnien, ein Mädchen, das im Tanz ein wenig Trost für den Verlust seines Vaters sucht, sowie ein andere Heranwachsen‧de aus dem Kosovo, das die Ermordung ihres Großvaters und den Hass, der ihrer Familie entgegenschlug, nicht vergessen kann. Das wird nicht vertieft, signalisiert aber doch nachdrücklich die vielen Facetten hinter dem Projekt, das alle zusammen‧bringt, weil sie Neues entdecken wollen. Gerade das emotionale Potenzial dieses Anliegens spiegelt der Film intensiv – ebenso die Erkenntnis, dass sich alle Anstrengungen, alle Tränen und jedes Lachen nur dann auszahlen, wenn die Jugendlichen ernst genommen werden. Den gänzlich uneitlen, wie selbstverständlich gezeigten Respekt vor jedem Einzelnen und seinen Leistungen hat der Film verinnerlicht, da er stets auf Augenhöhe mit seinen Protagonisten ist, nahe dabei und doch selbst stets bescheiden. Am Ende verteilt Pina Bausch still und sichtlich bewegt Rosen an „ihre“ Tänzer und verschwindet mit einem Lächeln von der Premierenbühne. Vor ihrem Tod am 30. Juni 2009 hat sie die Rohfassung des Films noch gesehen. Sie dürfte sich über ihn gefreut haben.
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