La bocca del lupo

- | Italien 2009 | 75 Minuten

Regie: Pietro Marcello

Ein stilistisch außergewöhnlicher Film über die Stadt Genua und die sich in ihr entfaltende Liebe zwischen einem ehemaligen Kriminellen und einer Transsexuellen. Als Collage aus inszenierten Szenen, dokumentarischen Aufnahmen und Found-Footage-Bildern ergibt sich ein fragmentarisch-assoziatives Porträt, das neben der zentralen Liebesgeschichte zwischen zwei gesellschaftlichen Außenseitern auch den Niedergang der ehemaligen Handelsmetropole melancholisch, aber nicht nostalgisch beleuchtet. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LA BOCCA DEL LUPO
Produktionsland
Italien
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Indigo Film/L'Avventurosa Film
Regie
Pietro Marcello
Buch
Pietro Marcello
Kamera
Pietro Marcello
Musik
ERA
Schnitt
Sara Fgaier
Darsteller
Mary Monaco (Mary) · Vincenzo Motta (Enzo)
Länge
75 Minuten
Kinostart
21.10.2010
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Diskussion
Der Blick aufs offene Meer ist kulturgeschichtlich häufig mit Melancholie und Sehnsucht verbunden, mit einer Projektion auf einen unbestimmten Ort jenseits des Horizonts. „La bocca del lupo“ beginnt mit so einem Blick, vom Hafen von Genua aus. Ein Schiff in der Ferne, langsam bewegt es sich aus dem Bild heraus. Doch hier fällt die Projektion zurück auf die im Verfall begriffene Stadt und ihre Gestrandeten – Obdachlose, die in den Höhlen der Hafenanlagen hausen, oder Schiffbrüchige wie Enzo, der schnauzbärtige Sizilianer mit dem zerfurchten Gesicht. Schon als Kind kam er mit seinem Vater in die Hafenstadt, verkaufte Zigaretten und geriet bald auf Abwege. Sein halbes Leben hat er im Gefängnis verbracht. Nun kehrt er nach einer langen Haftstrafe nach Hause zurück, in seine dunkle Wohnung im Ghetto der Altstadt, wo das Abendessen schon seit Jahren auf dem Tisch steht. Der Film folgt Enzo in die Welt der heruntergekommenen Quartiere und dunklen Bars, in denen gestritten, getrunken und getanzt wird. Dabei entfernt sich die Erzählung immer wieder von der Figur, streift in Bildern des heutigen und vergangenen Genua umher. Archivaufnahmen zeigen eine ehemals glorreiche Stadt, sie erzählen von der Arbeit in den Schiffswerften, von vergangenem Badevergnügungen, aber auch von den Sprengungen der Fabriken, vom Niedergang und dem Verschwinden. Eine schwer melancholische Stimmung hängt über dem Film, doch er flüchtet sich nie in Nostalgie oder Sentimentalität; denn selbst hinter der tristen Realität des heutigen Genua, dem Abseitigen und Kaputten, entdeckt der italienische Regisseur Pietro Marcello eine eigentümliche Zärtlichkeit und Magie. Manchmal sieht man sich dabei sogar an das Kino von Pier Paolo Pasolini erinnert. Ähnlich wie bei den am Rande der Existenz stehenden Charakteren in seinen frühen neorealistischen Filmen finden auch in der Figur von Enzo Profanität und Transzendentalität immer wieder für kurze Zeit zusammen. „La bocca del lupo“ ist eine ebenso dichte wie frei assoziierende Collage aus inszenierten Szenen, dokumentarischen Aufnahmen, Found Footage und einer vielschichtigen Tonspur, die vom ersten Moment an einen rätselhaften Sog erzeugt. Die Bilder werden von einer hypnotischen Musik aufgeladen, sie verlieren ihren dokumentarischen Charakter, werden überhöht und gewinnen ein Eigenleben. Pietro Marcello zeichnet das fragmentarisches Porträt einer maroden Stadt, das sich mit der Geschichte von Enzo und seiner großen Liebe, Mary Monaco, überlagert. Im Gefängnis haben sich die ehemals heroinsüchtige Transsexuelle und der finstere Kriminelle, der die „Sanftheit eines Kindes im Körper eines Riesen“ vereint, kennen gelernt. Anfangs war sie von seinem Machismo und seiner physischen Präsenz eingeschüchtert, doch als er bei Walt Disneys „Bambi“ weinen musste, hat sie sich sofort in ihn verliebt. Zehn Jahre hat Mary auf ihn gewartet; in der langen Zeit ihrer Trennung haben sie sich gegenseitig Kassetten besprochen und zugeschickt. Mit rauer Stimme bekräftigt Enzo seine grenzenlose Liebe und ermahnt die Geliebte zur bedingungslosen Treue. „Ich liebe dich, du Bastard“, heißt es am Schluss – eine Liebeserklärung, die auch Marcellos Verhältnis zu Genua gut beschreibt. Erst ganz am Ende zeigt der Film das Paar zusammen: In einer langen, ungeschnittenen Szene sitzen die beiden, umgeben von ihren Hunden und im schummrigen Licht der Wohnung, frontal zur Kamera, wie in einer langen Porträtaufnahme. Unbeschadet sind beide aus dieser Zeit nicht hervorgegangen, so viel ist klar. Ihre Körper sprechen hier einen eigenen Text. Während Mary von der Begegnung im Gefängnis erzählt, den Repressionen gegenüber den Transsexuellen und Enzos beschützender Männlichkeit, krempelt er scheinbar beiläufig die Ärmel seines T-Shirts hoch und zeigt seine Oberarme. Auf ihre zweifellos große Liebesgeschichte blicken beide wie auf eine alte Sage aus der tiefsten Vergangenheit zurück. Selbst der Traum vom kleinen Haus im Grünen mit Blick auf das Meer weist in keine Zukunft, sondern scheint ein Teil dieser Legende zu sein. Am Ende singt Enzo ein Lied, in dem es um alte Leute geht: „Du und ich, wir müssen ein und das gleiche werden. Wir müssen uns gegenseitig trösten, alt und glücklich.“ Marcello weiß um die Authentizitäts- und Voyeurismusfallen des Dokumentarischen, und doch findet „La bocca del lupo“ in dieser Szene zu einer Wahrhaftigkeit, die im Kino nur selten zu finden ist.
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