Drama | Argentinien/Frankreich/Niederlande/Deutschland/Spanien 2008 | 84 Minuten

Regie: Lisandro Alonso

Ein Matrose nimmt Landurlaub, um sein argentinisches Heimatdorf zu besuchen und nach seiner alten Mutter zu sehen. Fast beiläufig und betont wortkarg begleitet der Film seinen schweigsamen Protagonisten auf dessen Reise durch Feuerland, wobei er sich einem tieferen Sinn ebenso verweigert wie einer einfachen "Erlösung" sowohl seiner Figur als auch des rätselnden Zuschauers. Die ästhetisch streng komponierte, pointiert mit Farben operierende Dramaturgie entfaltet eine eigenwillige Raumstruktur und entwirft mit spröder Schönheit ein lakonisch-melancholisches Bild des Unbehaustseins. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LIVERPOOL
Produktionsland
Argentinien/Frankreich/Niederlande/Deutschland/Spanien
Produktionsjahr
2008
Produktionsfirma
4L/Black Forest Films/CMW Films/Eddie Saeta/Slot Machine
Regie
Lisandro Alonso
Buch
Salvador Roselli · Lisandro Alonso
Kamera
Lucio Bonelli
Musik
Flor Maleva
Schnitt
Lisandro Alonso · Sergi Dies · Fernando Epstein · Martín Mainoli
Darsteller
Juan Fernández (Farrel) · Nieves Cabrera (Trujillo) · Giselle Irrazabal (Analía)
Länge
84 Minuten
Kinostart
15.04.2010
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
Externe Links
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Diskussion
Es geht um den Hintergrund. Zwei junge Männer sitzen da, ihre Gesichter sind erhellt vom Schein des Bildschirms, sie halten Spielkonsolen in den Händen. Alles ist ziemlich dunkel und grünlich, durch ein Fenster dringt rosa Lichtschein. Im Hintergrund sitzt ein Mann mit roter Hose, sein weißes T-Shirt leuchtet. Er trinkt Kaffee, verschränkt die Arme. Um ihn, Farrel, den Matrosen auf Landurlaub, geht es. Eine ähnliche Szene taucht in Lisandro Alonsos „Liverpool“ später noch einmal auf. Zwei Männer spielen Karten in einem Wartesaal; Farrel steht im Hintergrund an die Wand gelehnt und sieht fern. Es wird kaum gesprochen in diesem Film, und wenn, dann tauschen die Menschen Belanglosigkeiten aus: Die Karten- und die Computerspieler kommentieren ihr Spiel, Farrel bestellt Essen. Die Aufmerksamkeit, so scheint es, verschiebt sich von den Worten, von der Struktur der Dialoge und Sätze, die hier nicht mehr als rudimentär ist, auf die Raumstruktur, die Bewegung im Raum, auf die Orte, die Farrel auf seiner Reise durchläuft. Nach und nach wird so eine Art innere Topografie entworfen. Anfangs wird erst langsam klar, dass Farrel auf einem Schiff arbeitet, einem Containerschiff. Zunächst gibt es nur einen Keller, Männer in roten Overalls und Maschinen, dicke weiße Rohre und Lärm. Der Matrose bittet darum, im Hafen von Ushuaia, der südlichsten Stadt Argentiniens, an Land gehen zu können. Er ist in der Gegend geboren und weiß nicht, ob seine Mutter noch lebt. Seine Ankunft in der Stadt, das, was er einpackt und wie er es einpackt, die tiefen Schlucke, die er immer wieder und schon morgens aus einer Schnapsflasche nimmt, legen nahe, dass er eine schwierige Heimkehr erwartet. Ästhetisch streng wie ein symphonisches Werk ist „Liverpool“ komponiert. Die Farben Rot und Grün sind wichtig, Momente der verschneiten Landschaft wiederholen sich auch in den Innenräumen – das Licht einer Neonlampe; weiße Spiegelreflexe tanzen wie Schneeflocken auf der nackten Haut der Mädchen in einem Stripclub in Ushuaia. Bevor er im Stripclub sitzt, isst Farrel etwas in einer Kneipe und trinkt dazu ein Bier mit einem Schuss Schnaps. An der Wand hinter ihm zeigt eine Fototapete einen See, in dem sich eine pittoreske, satte Herbstlandschaft spiegelt, ein Mischwald, aus dem die rot gefärbten Blätter der Laubbäume leuchten. Es wirkt, als hätte Farrel sich zwischen den Birkenstämmen im Vordergrund niedergelassen. Die Tapetenlandschaft ist ein absurder Kontrast zur winterlichen Ödnis, in die sich Farrel auf seiner Reise begibt – vielleicht bildet das eine die Vergangenheit ab und das andere die Gegenwart und Zukunft, nach der Tragödie. Lisandro Alonsos Filme finden ihren Weg zuverlässig auf internationale Festivals; ihr eigenwilliger, oft als minimalistisch beschriebener Stil wird von der Kritik gefeiert. „Liverpool“ lief 2008 in Cannes, wie auch schon Alonsos Debüt „La libertad“ (2001). Sein dritter Film „Fantasma“ spielt als einziger nicht auf dem Land, sondern in der Stadt, in Buenos Aires. In „Los muertos“ (2004) macht sich ebenfalls ein wortkarger Mann auf eine Reise, zu seiner Familie, den Wurzeln, vom Gefängnis in den Dschungel. Die Tötung und Schlachtung einer Ziege am Wegesrand wird darin ganz beiläufig inszeniert. In „Liverpool“ verzichtet Alonso alledings komplett auf Schockmomente. Der Filmtitel bleibt bis zum Schluss ein Geheimnis. Der Enthüllung kommt in etwa die Rolle zu, die der „Falke“, das Dingsymbol in einer postmodernen Novelle, spielen könnte: Lakonisch-melancholisch wird ein großer Zusammenhang ad absurdum geführt – es gibt keinen tieferen Sinn und keine Erlösung. Farrels Heimatdorf wird von einem Sägewerk gerade so am Leben gehalten. Jeder kennt jeden, kommuniziert wird kaum. Sein Haus verlässt man nur, um zu arbeiten und zu essen. In dem, was Farrel dort vorfindet, deutet sich eine Tragödie an, die ihn möglicherweise dazu bewegt hat, vor vielen Jahren den Ort zu verlassen. Nach etwa zwei Dritteln des Films verschwindet die Hauptfigur einfach, der Matrose wird im Auge der Kamera immer kleiner, als er über das schneebedeckte Feld Richtung Waldrand stapft. Der Zuschauer bleibt mit den Bewohnern im Dorf zurück.
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