Die Parallelstraße

- | BR Deutschland 1962 | 83 Minuten

Regie: Ferdinand Khittl

Dokumentarisches Filmmaterial, das während zwei Weltreisen entstand, wird zu einer Art Fake-Dokumentation aufbereitet: Eine "Kommission" diskutiert, interpretiert und bewertet die Szenen unter Leitung einer Aufsichtsperson, zeigt sich jedoch unter dem existenziellen Druck, der auf sie ausgeübt wird, einer Deutung nicht gewachsen. Das Sammelsurium aus Eindrücken und Situationen ist eine ebenso intelligente wie verspielte, vielschichtige wie ergebnisoffene Reflexion; dabei werden in der "Manipulation" von Kommentar, Bild, Ton, Musik sowie in der Montage Erzählstrategien des Werbe- und Dokumentarfilms, der Fernsehshow und des klassischen Genrekinos reizvoll ad absurdum geführt. Der einzige "Spielfilm" von Ferdinand Khittl, Mitinitiator des Oberhausener Manifests. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
BR Deutschland
Produktionsjahr
1962
Produktionsfirma
Gesellschaft für bildende Filme GBF
Regie
Ferdinand Khittl
Buch
Bodo Blüthner
Kamera
Ronald Martini
Musik
Hans Posegga
Schnitt
Irmgard Henrici
Darsteller
Friedrich Joloff (Protokollführer) · Henry van Lyck · Ernst Marbeck · Wilfried Schröpfer · Herbert Tiede
Länge
83 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 16
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
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Heimkino

Die Extras überzeugen u.a. durch Kurzdokumentation über die Filmmusik (10 Min.), sechs Industrie- und Kulturfilme des Regisseurs Ferdinand Khittl (53 Min.) sowie einem 20-seitigen analytischen Booklet. Die Edition ist mit dem Silberling 2010 ausgezeichnet.

Verleih DVD
edition Filmmuseum (1.37:1, Mono dt.)
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Diskussion
Ferdinand Khittl (1924-76) gehört zu den Initiatoren des Oberhausener Manifests. Aus demselben Jahr – 1962 – stammt sein einziger Spielfilm: „Die Parallelstraße“. Der experimentelle Film wurde international sehr gut aufgenommen, erhielt den Großen Preis von Knokke, ausgezeichnete Kritiken in San Sebastián und Cannes von Journalisten wie Raymond Borde, Jean-Paul Török, Robert Benayoun. In Deutschland kam der Film dagegen auch bei namhaften Kritikern nicht an und war – schlimmer noch – ein kommerzieller Misserfolg. Khittl kam vom Werbe- und vom Dokumentarfilm. Diese Vorgeschichte ist wichtig. Von einer Weltreise mit dem Kameramann Robert Martini hatte er unterschiedlichstes Material mitgebracht. Statt der üblichen Kompilation entstand in Zusammenarbeit mit Bodo Blüthner eine Idee, die inzwischen fast schon Mode ist, 1962 aber schwer verzeihlich war: Das dokumentarische Material wird als „Fake“-Docu aufbereitet, Erzählstrategien des Werbefilms, des Dokumentarfilms, der Fernsehshow oder des klassischen Genrekinos werden ad absurdum geführt. Aus dem Berg an belichteten Bildern werden 308 Folgen generiert, die als Nachlass eines verdächtigen Subjekts gelten. Ein fünfköpfiges Gremium unter Anleitung eines Spielleiters sichtet diese in drei nächtlichen Sitzungen. Wie im Film noir erklärt der Spielleiter im „voice over“, dass diese fünf Männer wie alle ihre Vorgänger an der Aufgabe scheitern werden, intellektuell und existenziell. Die Geschichte beginnt mit dem Ende der zweiten Nacht, und die Abspanntitel lassen an der ironischen Absicht keinen Zweifel, vom Scheck des Produzenten bis zu den Fingerabdrücken des Regisseurs. Die Spuren der Ironie werden durch eine strenge Erzählung und die technische Poesie des Werbefilms verwischt. Das Gremium hat sich eine Strichliste erarbeitet, der die Dokumente zugeordnet werden, es geht um Nachdenken ohne Erkenntnis. Mancher Kritiker mag sich – zu Recht – betroffen fühlen, wenn auch noch energisch betont wird, dass die Bildqualität nicht zur Diskussion steht. Da gibt es beispielsweise den Rückwärtslauf der Bilder, der vom Kommentar linear erzählt wird; die Tiere werden im Schlachthaus geboren, der Auswanderer kehrt in den Schoß der Mutter zurück. Oder es wird das Schicksal eines Gefangenen beklagt: ein großer Fisch im Aquarium. Eine Gefangeneninsel fungiert als Insel der Glückseligen. Es geht um Löwenmut, lächerliche Helden und Boten, die nie ankommen. Die poetische Geschichte des Wassers wird erzählt; überhaupt künden Zahlen und absurde Fakten vom harten Los des Industriefilmers. Was nicht passt, wird passend gemacht, fünf Städte werden zu einer Stadt. Ganz deutlich wird der Bezug, wenn es um die Verbrechen von Gummi, Öl und Gas geht oder um die Freundlichkeit derer, die keinen Lohn nehmen. Und die Farben der Sonne als physikalische und romantische Phänomene. Einige hilfreiche Abfallprodukte der Diskussionen passen zwar nicht in die Tabellen, werden aber doch so deutlich, dass die Identität des verkommenen Subjekts durchscheint. Es ist Herr über Zeit und Raum, es manipuliert durch Kommentar, Ton, Musik, Montage, es vertauscht Teile, es benützt Technisches für Seelisches. Die absurde Situation des Auftragsfilmers produziert in ihrem Euphemismus immer nur Dokumente des Todes. Der Schein des Schönen verbleibt aber auch im schönen Schein.
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