Live aus Peepli - Irgendwo in Indien

Tragikomödie | Indien 2009 | 108 Minuten

Regie: Anusha Rizvi

Ein Bauer, dem die Bank einen Kredit nicht verlängern will, sodass dessen Land versteigert zu werden droht, sieht als einzige Lösung, um seiner Familie das Land zu erhalten, den Selbstmord, denn die Regierung würde seinen Angehörigen eine stattliche Vergütung zahlen. Da Wahlkampfzeit ist, stürzen sich Pressevertreter und Partei-Funktionäre auf die "Story" und versuchen, daraus Kapital zu schlagen. Eine bissig-bittere Farce, die mit der indischen Sozialpolitik ebenso ins Gericht geht wie mit den auf Skandale und Sensationen fixierten Medien. Deren hektischer Oberflächlichkeit begegnet die Tragikomödie mit ruhig-insistierendem Blick, der facettenreich und schonungslos die Absurdität eines letztlich menschenverachtenden Systems bloß stellt. (O.m.d.U.) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
PEEPLI LIVE
Produktionsland
Indien
Produktionsjahr
2009
Produktionsfirma
Aamir Khan Prod.
Regie
Anusha Rizvi
Buch
Anusha Rizvi
Kamera
Shanker Raman
Musik
Mathias Duplessy · Indian Ocean · Nageen Tanvir · Badwai Village Artists
Schnitt
Hemanti Sarkar
Darsteller
Omkar Das (Natha) · Raghuvir Yadav (Budhia) · Shalini Vatsa (Dhaniya) · Farrukh Jaffar (Amma) · Malaika Shenoy (Nandita)
Länge
108 Minuten
Kinostart
11.11.2010
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Tragikomödie
Externe Links
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Diskussion
Es geht mit einem flotten, heiter klingenden Song los, der die Magie Indiens beschwört: „Leere Taschen – große Herzen!“ Von den leeren Taschen erfährt man bald noch mehr, von einer sentimentalen Beschwörung der „großen Herzen“ könnte „Live aus Peepli – Irgendwo in Indien“, das Spielfilmdebüt der Dokumentarfilmerin Anusha Rizvi, allerdings nicht weiter weg sein. Noch nicht einmal die Familie, dem Bollywood Kino sonst heilig, bietet hier einen Schutzwall gegen ein Klima umfassender Gleichgültigkeit. Die Armen sind anscheinend zu sehr vom Kampf ums eigene Überleben ausgelaugt, um die Energie für familiäre oder nachbarschaftliche Solidarität übrig zu haben; die Reichen wiederum verdienen zu gut an den bestehenden Verhältnissen, um diese ändern zu wollen. Nahezu stumm bliebt Natha, die Hauptfigur des Films – dafür reden andere umso mehr: über ihn, über seinen Kopf hinweg. Ein Schicksal, mit dem Natha repräsentativ ist für die Schicht, aus der er kommt: Er ist Bauer, und während in den indischen Großstädten die Wirtschaft boomt, sind die Lebensumstände der einfachen Landbevölkerung immer noch die eines Entwicklungslandes. Warum ist das so? Warum nimmt die Politik, warum nehmen die Menschen das hin? Anusha Rizvi formuliert diese Frage in Form einer ebenso komischen wie bitterbösen Farce. Den Aufhänger dafür liefert ein Faktum, das man sich zynischer nicht hätte ausdenken können: Jährlich begehen Tausende indischer Bauern Selbstmord, weil sie keinen anderen Ausweg aus ihren deprimierenden Lebensverhältnissen sehen. Klimatische Unberechenbarkeiten führen zu Missernten, Saatgut, das aus den USA bezogen wird, erweist sich als ungeeignet für die indischen Verhältnisse, das Aufnehmen von Schulden führt in eine Spirale der Abhängigkeit, aus der es kein Entkommen gibt. Wenn sich ein indischer Bauer umbringt, bekommen seine Hinterbliebenen immerhin eine Prämie, die den Jahresverdienst eines Landwirts um ein Vielfaches übertrifft. Was als Unterstützung für die betroffenen Familien wahrscheinlich gut gemeint ist, zeitigt, da ein Bauer zu Lebzeiten kaum auf eine vergleichbare staatliche Hilfe hoffen kann, einen makabren Anreiz zum freiwilligen Ableben. Davon hören auch Natha und sein Bruder Budhia, und da beiden das Wasser bis zum Hals steht – die Bank will ihren Kredit nicht verlängern und droht, das Land der Familie und damit ihre Existenzgrundlage zu versteigern –, fassen sie den Entschluss, dass einer von ihnen den Löffel abgeben muss, um das Überleben der Restfamilie zu sichern. Der Schwarze Peter bleibt an Natha hängen. Doch bevor er den Entschluss in die Tat umsetzen kann, bekommt die Presse Wind von den Absichten – und in Peepli bricht die Hölle los: Wie die Heuschrecken fallen die Zeitungs- und Fernsehreporter in dem Dorf ein und wollen über Natha berichten. Die Story von dessen Todesplänen birgt nicht nur die Aussicht auf einen Selbstmord vor laufender Kamera, sondern lässt sich, da gerade Wahlen anstehen, auch wunderbar zum Politikum machen. Entsprechend werden bald diverse Machthaber und Parteifunktionäre auf den Plan gerufen, die hoffen, aus der Affäre um den einfachen Bauern in irgend einer Weise politisches Kapital schlagen zu können. Anusha Rizvi weiß, was sie tut, wenn sie Presseleute aufs Korn nimmt, die zu sehr um Sensationen konkurrieren, um ehrliches Interesse an Menschen und ihren Lebenshintergründen aufzubringen: Sie hat selbst lange als Produzentin für Indiens größten Nachrichtensender NDTV gearbeitet. Umso bitterer ist ihr Porträt einer Reporterin, deren Interesse für Natha zunächst dessen Rettung zu sein scheint, weil es die Probleme seiner Familie der Öffentlichkeit vorlegt, die sich schließlich aber genauso von Peepli und den Bauern abwendet wie alle anderen, sobald sich kein Profit mehr daraus ziehen lässt. In einzelnen Sequenzen übernimmt Rizvis Film die hektische Handkamera-Perspektive der Reporter, die Natha nachjagen, allerdings nur, um sie zu konterkarieren mit dem eigenen Blick, der das genaue Gegenteil ist: ruhig, insistierend, weit offen für die Dinge und die Gesichter am Rande. Dabei fängt ihre Kamera immer wieder Situationen ein, die sich an Irrwitzigkeit gegenseitig überbieten; bei allem lakonischen Humor hält Anusha Rizvi aber auch mit kleinen Szenen dagegen, die einem in Erinnerung halten, wie viel tödlicher Ernst in der Farce steckt. Produziert wurde der Film von Superstar Aamir Khan; auch schon dessen eigene Regiearbeit „Taare Zameen Par“ legte den Finger anklagend auf soziale Schwachstellen der indischen Gesellschaft. Während „Taare Zameen Par“ dies mit den Mitteln des Hindi-Mainstreams in Form einer herzerwärmenden Geschichte mit niedlichen Kinder-Protagonisten tat, ist Anusha Rizvis bemerkenswerter Film gnadenlos ungeschönt in der Zeichnung seiner Figuren, seinem Blick auf die Verhältnisse – eine messerscharfe Tragikomödie, bei der einem das Lachen immer wieder im Hals stecken bleibt.
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