Dokumentarfilm | Brasilien/Großbritannien 2010 | 99 Minuten

Regie: Lucy Walker

Dokumentarfilm über den brasilianischen Fotokünstler Vik Muniz, der zusammen mit Menschen, die auf den Müllbergen Rio de Janeiros nach recyclebarem Material suchen, eine Serie von Porträts erstellte: Muniz fotografierte die Sammler und projizierte die Aufnahmen auf den Boden einer Fabrikhalle; nachdem die Sammler ihre Porträts mit Müll ausgelegt hatten, stellte er großformatige Fotos davon her, die ausgestellt und zugunsten der "Müllwerkergewerkschaft" versteigert wurden. Der Film hält die Genese dieser Werke fest und porträtiert zugleich einige der Sammler. Wie die Aktion trägt er damit eindrucksvoll dazu bei, Menschen einer sozialen Randgruppe ins kulturelle Zentrum der Aufmerksamkeit zu rücken. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
WASTE LAND
Produktionsland
Brasilien/Großbritannien
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Almega Projects/O2 Filmes
Regie
Lucy Walker
Buch
Lucy Walker
Kamera
Ernesto Herrmann · Dudu Miranda
Musik
Moby
Schnitt
Pedro Kos
Länge
99 Minuten
Kinostart
26.05.2011
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Diskussion
„The moment when one thing turns into another is the most beautiful moment“, hört man den brasilianischen Fotokünstler Vik Muniz in „Waste Land“ in bestem Feuilletonslang über Kunst philosophieren. „A combination of sounds turns into music“, Farbspritzer in ein Gemälde, der Fluss der (Film-)Bilder in Erkenntnis oder Erfahrung. Man muss wie in einer Galerie einen Schritt zurück tun, um alle Details in den Blick zu nehmen, damit sich die Idee hinter dem Material erschließen kann – und dann erneut näher treten, um die Besonderheiten zu studieren. Lucy Walkers Dokumentarfilm über Muniz’ künstlerisches Sozialprojekt „Jardim Gramacho“ setzt diesen Prozess quasi für die Leinwand um: ein Porträt über den international renommierten Künstler und sein Werk, das zugleich eine Exkursion an den Rand der brasilianischen Gesellschaft ist, soziale Veränderungen dokumentiert, ästhetische Debatten streift und indirekt, aber sehr nachhaltig über menschliche Würde und Dignität handelt. Der Film begleitet Muniz drei Jahre lang von den ersten Konzeptideen bis zur finalen Ausstellung in Rio de Janeiro, in der die großformatigen Porträts der „Müllmenschen“ für Furore sorgen. Dafür kehrt der bildende Künstler aus New York in seine Heimat Brasilien zurück, wo er auf der größten Müllkippe der Welt Menschen fotografiert, die in dem Abfall nach verwertbarem Material suchen. Kaum haben die Laster ihren Unrat ausgeworfen, stürzen sich Scharen armer Gestalten auf die Reste des Wohlstands, um das herauszupicken, was wiederverwertbar ist. Aus der Nähe wirkt das chaotisch und verzweifelt, doch die „Catadores“ (Pflücker), wie sie sich selbst nennen, sind in Gruppen organisiert; in der Favela, die rund um die Müllkippe entstanden ist, leben 20.000 Menschen. Im Schlepptau von Muniz’ Recherche erzählen sieben von ihnen aus ihrem Leben und Alltag, warum sie hier gelandet sind, wie sie mit Schmutz und Gestank zurechtkommen und was diese Arbeit für sie bedeutet. Doch Muniz ist nicht an Elendsfotografie interessiert; seine Arbeiten zielen vielmehr auf gesellschaftliche Zusammenhänge. Das beginnt bei den Porträtierten, die er aus der Rolle des (Kamera-)Objekts befreit und ins Werk einbindet. In einer Halle, die als provisorisches Fotostudio eingerichtet ist, fotografiert er die ausgewählten Catadores zunächst in der Pose berühmter Vorlagen, etwa als Caravaggios toter Marat oder Picassos Madonna mit Kind, wobei immer ein Zusammenhang zum Leben der Dargestellten besteht. Diese Aufnahmen werden dann in riesiger Dimension auf den Boden der Halle projiziert, um mit dem Sammelgut der Catadores, Dosen, Flaschen, Zahnpastatuben und ganz viel Dreck „nachgezeichnet“ zu werden; am Ende lichtet Muniz diese Müllporträts vom Dach der Halle mit einer Großbildkamera ab. Das Ergebnis ist umwerfend: Aus der Distanz erkennt man die bekannte Vorlage, doch beim Näherkommen blicken einen die Gesichter der Catadores an, bis man schließlich nur noch kunstvoll arrangierten Abfall vor sich hat – die „Materialität“ des Porträts wie des Porträtierten. Es ist ein bewegender Moment, als der „Marat“ des Catadors Tiao, dem charismatischen Kopf der „Pflücker“-Gewerkschaft, bei einer Auktion in London für sehr viel Geld versteigert wird, das auf direktem Weg in die Favela fließt. Doch das eigentliche Ziel ist nicht der internationale Kunstmarkt, sondern die brasilianische Gesellschaft, die über diesen Umweg mit verdrängten Wirklichkeiten konfrontiert wird: den im Müllschlucker entsorgten „Rest“ ihres Daseins wie ihrer Welt. Die Catadores kehren so für die Dauer einer Ausstellung ins kulturelle Zentrum Rio de Janeiros zurück, was ihrer politischen Selbstorganisation spürbare Erfolge bescherte. Doch auch für die Porträtierten sind die Auswirkungen des Kunstprojektes deutlich zu spüren: die Arbeit an den Bildern hat eine Tür in eine Welt jenseits stinkender Müllberge aufgestoßen, was der Film unter anderem auch zum Anlass nimmt, Fragen nach der Legitimität solcher Interventionen zu stellen. Allerdings kehren nur wenige dem „Jardim Gramacho“ den Rücken; einer stirbt, andere fühlen sich in ihrem Dasein bestärkt. Am Ende hängen die Porträts in den Wellblechhütten, wo sie offenbar machen, um was der aus unterschiedlichsten Perspektiven erzählte, wenngleich weitgehend chronologisch strukturierte Film insgeheim kreist: die Wertschätzung und Würde des Einzelnen. Man versteht, was es für die ältere Irma bedeutet, ihr Bild aus der „Gargabe Serie“ an der Wand zu haben: einen verdichteten, als „Kunst“ geadelten und transformierten Widerschein ihrer selbst, der die Härten des Lebens nichts verschweigt, aber über dessen Nöte und Sorgen hinaushebt.
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