Die Einsamkeit der Primzahlen

Drama | Italien/Deutschland/Frankreich 2010 | 119 Minuten

Regie: Saverio Costanzo

Ein junger Mann und eine junge Frau, die schwer an kindlichen Traumata tragen, lernen sich kennen und werden zu Freunden. Ihrer Sehnsucht nach Zweisamkeit stehen die alten Verletzungen entgegen, die sie nicht hinter sich lassen können. Mit überzeugenden Darstellern umgesetzte Romanverfilmung, deren inszenatorische Ideen zwar Eindruck machen, die aber in der Summe das Drama zweier Einsamer allzu laut und reizüberflutend umsetzt. Die ruhig-distanzierte Erzählweise des Romans weicht einer allzu vehement im Seelenschmerz schwelgenden filmischen Umsetzung, bei der subtilere Töne auf der Strecke bleiben. - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
LA SOLITUDINE DEI NUMERI PRIMI
Produktionsland
Italien/Deutschland/Frankreich
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Offside/Bavaria Pic./Les Films des Tournelles/Le Pacte
Regie
Saverio Costanzo
Buch
Saverio Costanzo · Paolo Giordano
Kamera
Fabio Cianchetti
Musik
Mike Patton
Schnitt
Francesca Calvelli
Darsteller
Alba Rohrwacher (Alice) · Luca Marinelli (Mattia) · Arianna Nastro (Alice als Teenager) · Vittorio Lomartire (Mattia als Teenager) · Martina Albano (Alice als Kind)
Länge
119 Minuten
Kinostart
11.08.2011
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
Es gibt eine herzzerreißende Sequenz in „Die Einsamkeit der Primzahlen“: Mattia und Alice sehen sich nach Jahren der Trennung wieder. Er, der gerade aus Deutschland zurückgekehrt ist, klopft unangemeldet an ihre Wohnungstür, woraufhin sich Alice, die gerade aus der Dusche kommt, aufgeregt und fahrig die Kleider über den Leib zerrt, während auf der Tonspur in ohrenbetäubender Lautstärke „Bette Davis Eyes“ von Kim Carnes zu hören ist, bis Alice endlich, endlich die Wohnungstür aufreißt und die beiden eher aneinander vorbeitaumeln, als dass sie sich in die Arme fallen. Doch es ist ein Augenblick totalen Glücks, nicht nur für Mattia und Alice, auch für den Zuschauer. Ein kurzer Moment der Leichtigkeit, die man sonst vergeblich sucht in dieser Verfilmung des titelgleichen italienischen Bestsellers von Paolo Giordano. Der Roman wie der Film erzählen von zwei zutiefst verwundeten Seelen, die zueinander kommen wollen – und es doch nicht schaffen, ihre Einsamkeit zu überwinden. Wie Primzahlen eben, die bekanntlich nur durch sich selbst oder durch Eins teilbar sind. Beide, Mattia wie Alice, haben in der Kindheit Schreckliches erlebt: Alice, vom ehrgeizigen Vater zum Skifahren gezwungen, verunglückte schwer; seit ihrem Unfall humpelt sie und erlebt, wie das Anderssein sie zur Außenseiterin macht. Mattia hingegen hat das Verschwinden seiner behinderten Zwillingsschwester verschuldet: Nur ein einziges Mal wollte er nicht der verantwortungsbewusste Bruder sein, einmal ohne sie auf einen Kindergeburtstag gehen; als er das Mädchen später im Park abholen möchte, ist sie spurlos verschwunden. Über diese Erschütterungen der frühen Kindheit kommen beide nicht hinweg. Zwar blitzt eine Hoffnung auf Gemeinschaft und Seelenverwandtschaft auf, als sie in der Schule aufeinander treffen, und tatsächlich ist beider Leben fortan ohne den anderen nicht mehr denkbar. Die Erfüllung in der Zweisamkeit aber bleibt aus; zu prägend und präsent sind die Verletzungen und Einsamkeitserfahrungen der Kindheit. Was den auf mehreren Zeitebenen erzählten Film streckenweise doch recht enervierend macht, ist der Umstand, dass er sich im nicht zu tilgenden Schmerz seiner Geschichte suhlt; er ergibt sich fast der Ausweglosigkeit des von ihm erzählten Schicksals. Viel zu oft bekommt der talentierte Luca Marinelli nichts anderes zu tun, als melancholisch-triefäugig in der Gegend herumzustehen; auch die an sich gelungene, aber zu laute und penetrant eingesetzte Tonspur dräut allzu bombastisch, wenn es donnert, gewittert oder der Nebel wabert; dramatische Anlässe dafür bietet die Story zuhauf. Es ist nicht so, dass dieser expressive Zugriff unpassend oder nicht gut gemacht wäre; es ist vielmehr die Überfülle dessen, was Costanzo auffährt, um den Roman von Paolo Giordano (und das gemeinsam geschriebene Drehbuch) in Bilder und Töne umzusetzen. Inhaltlich hält sich die Inszenierung eng an die literarische Vorlage, doch stilistisch ist der Unterschied enorm. Der Roman kommt im Vergleich dazu viel leichter, schlichter und zurückgenommener daher; in einer sehr klaren, schnörkellosen Sprache lässt er das Schicksal der Protagonisten umso intensiver hervortreten. Costanzo hingegen stellt das Ungeheuerliche aus, betont es optisch wie akustisch, obwohl er, das zeigt das Drama in fast jeder Einstellungen, ein großer Bildermacher und filmischer Poet ist, der Tableaus von enormer visueller Kraft schafft. Eine wahre Bilderflut, unterstützt vom Score des „Faith No More“-Frontmanns Mike Patton, überrollt den Zuschauer: Mal gemahnen die Bilder eines schneeverwehten Hotels und seiner einsamen Flure an Stanley Kubricks „Shining“ (fd 22 670), mal kämpft sich Alice durch einen imaginären Wald in Mattias Vergangenheit, dann wieder kulminiert das Drama in einer flackernden Techno-Party. Es sind Eindrücke, die lange nachhallen, in der Summe aber zur Reizüberflutung führen. Was fehlt, ist die Balance, sind die ruhigen Momente, eine gewisse Distanz und Nüchternheit, wie sie der Roman bei aller Empathie für seine Protagonisten einnimmt. Bisweilen kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, das Costanzo das filmische Handwerk allzu souverän beherrscht und schlicht zu verliebt in seine Bilder ist: Über all dem inszenatorischen Feuerwerk verliert er die tieferen, wirklich anrührenden Momente aus den Augen. Dass es diese dennoch gibt, ist vor allem den Darstellern zu verdanken, zuvorderst Alba Rohrwacher als „älteste“ Alice, die sich mit erschreckender Konsequenz in die Aufgabe stürzt, den magersüchtigen Körper ihrer Figur anzunehmen. Auch wenn Alice irgendwann wie ein leibhaftiges Strichmännchen aussieht, bleibt sie doch eine ebenso entzückende wie eigenartige Person, die in der dunklen Schwere dieses Dramas helle Lichtpunkte zu setzen vermag.
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