Over Your Cities Grass Will Grow

Dokumentarfilm | Frankreich/Niederlande/Großbritannien 2010 | 101 Minuten

Regie: Sophie Fiennes

Dokumentarfilm über den Künstler Anselm Kiefer, der in seiner Wahlheimat in Frankreich eine stillgelegte Seidenfabrik zu einem Ausstellungs- und Erlebnisort seiner Werke umbaut. Ohne erläuternden Kommentar, beschränkt sich der suggestive Film darauf, Einblicke ins Atelier sowie die Schaffensweise des Künstlers zu vermitteln und dessen apokalyptische Werke für sich sprechen zu lassen. Eine spannende, ebenso informative wie kunstsinnige Annäherung an Kiefer und seine Kunst. - Sehenswert ab 14.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
OVER YOUR CITIES GRASS WILL GROW
Produktionsland
Frankreich/Niederlande/Großbritannien
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Sciapode/Kasander Film/Amoeba Film
Regie
Sophie Fiennes
Buch
Sophie Fiennes
Kamera
Remko Schnorr
Schnitt
Ethel Shepherd
Länge
101 Minuten
Kinostart
27.10.2011
Fsk
ab 0 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
IMDb | TMDB

Diskussion
In einem berühmten Künstlerfilm aus dem Jahr 1955 („Picasso“, fd 5613) sitzt Pablo Picasso mit freiem Oberkörper vor einer halbtransparenten Leinwand und lässt sich beim Malen filmen. Der Blick über seine Schulter zeigt ihn als Künstler, dessen Bilder mit schlafwandlerischer Sicherheit buchstäblich im Handumdrehen entstehen. Die ihm gegenüber aufgestellte Kamera überhöht diesen Eindruck noch, weil sich aus ihrer Perspektive der Pinsel wie von Geisterhand geführt über die Leinwand bewegt. Mit diesem Trick versuchte der französische Regisseur Henri-Georges Clouzot, dem Geheimnis des schöpferischen (Mal-)Akts auf die Spur zu kommen. Auch wenn „Picasso“ das Geheimnis eher noch vergrößert, wurde der Film doch stilbildend für die Sehnsucht, im Atelier großer Maler Mäuschen spielen zu dürfen. Genau dieses Privileg vermittelt auch Sophie Fiennes („The Pervert’s Guide to the Cinema“, fd 39 189) mit ihrer Dokumentation „Over Your Cities Grass Will Grow“. Sie besucht mit Anselm Kiefer einen der bedeutendsten und umstrittensten deutschen Gegenwartsmaler in seiner französischen Wahlheimat Barjac, was schon deswegen reizvoll ist, weil Kiefer hier seit einigen Jahren eine stillgelegte Seidenfabrik zu einem dem eigenen Werk gewidmeten Themenpark umbaut. Anfang der 1970er-Jahre entwickelte Anselm Kiefer seinen charakteristischen Malstil, bei dem erst mehrere Schichten Farbe auf eine großformatige Leinwand aufgetragen und diese anschließend mit Materialien wie Sand, Stroh, Asche oder Haaren angereichert werden. Oft verweisen Schriftzüge auf Figuren und Ereignisse der deutschen Geschichte, wobei diese stets durch die traumatischen Erfahrungen des „Dritten Reichs“ gefiltert sind. Kiefers wichtigste Bilderserien gehen auf die germanische Hermannsschlacht zurück oder „übersetzen“ die Gedichte Paul Celans in die Sprache der modernen Malerei. Insbesondere in den USA wurde er für seine anspielungsreiche Auseinandersetzung mit der deutschen Vergangenheit gefeiert; allerdings provoziert seine „Malerei der verbrannten Erde“ (Kiefer) immer wieder auch vehementen Widerspruch. Ähnlich wie dem deutschen Filmemacher Hans-Jürgen Syberberg wird ihm häufig Mystizismus und eine letztlich unreflektierte Faszination für das Grauen unterstellt. Unbestritten gilt Kiefer als Meister des symbolisch aufgeladenen Ödlands – da sein Freilichtmuseum in Barjac eine ähnliche Anmutung hat, erscheint der endzeitlich-alttestamentarische Filmtitel „Over Your Cities Grass Will Grow“ mehr als angemessen. In den ersten 15 Minuten gleitet die Kamera langsam durch kunstvoll hergerichtete Katakomben, die Kiefer mit schwerem Gerät auf seinem 35 Hektar großen Grundstück ausheben ließ, um dann durch Lichtkanäle in oberirdische Museumsräume mit Kiefers großformatigen Gemälden aufzusteigen. Es ist ein düsteres, geradezu apokalyptisches Reich, das Kiefer im Gespräch mit dem Kunsthistoriker Klaus Dermutz raunend und ungemein anspielungsreich erläutert – freilich ohne damit mehr zu erklären als die György-Ligeti-Stücke, mit denen Fiennes die Kamerafahrten unterlegt. Sprechender sind die Blicke ins Atelier: Kiefer deckt einige auf dem Boden liegende Gemälde mit Asche zu und bringt sie am Karabiner zum „Trocknen“ in die Senkrechte; später werden gusseiserne „Bücher“ an Kränen herbeigeschafft und mit dem Bild verschraubt. Man fühlt sich in eine industrielle Werkhalle versetzt, in der aus Kunstwollen und handwerklichem Pathos ein deutscher Urmythos entsteht. Sophie Fiennes beschränkt sich in den klassischen Atelieraufnahmen auf die „Mäuschen“-Perspektive und fängt insbesondere Kiefers Enthusiasmus als irdischer „Weltenschöpfer“ überzeugend ein. Auch für Kunstinteressierte ist es immer wieder erstaunlich, wie weit sich die Arbeit moderner Maler vom klassischen Handwerk entfernt hat. Gleichzeitig scheint die Zeit in vielem stehen geblieben zu sein; während bei Rembrandt Farben gemischt wurden, stehen Kiefers Mitarbeiter am Ofen, um Asche zu produzieren. Da Fiennes auf jede Form von Erläuterung verzichtet und einzelne Werke allenfalls im Vorbeigleiten der Kamera zu sehen sind, geht es ihr offenbar vor allem um die Erfahrung, sich Kiefers gebauten Visionen auszusetzen. Naturgemäß kann ihr Film nur eine Ahnung davon vermitteln, möglicherweise gerade weil manches an Filmkulissen erinnert. Am Ende stehen die frisch errichteten Ruinen einer versunkenen Stadt im Wind. Das erhabene Gefühl, das sich angesichts dieser Mahnung einstellen soll, erschließt sich in Gänze wohl nur vor Ort.
Kommentar verfassen

Kommentieren