John Irving und wie er die Welt sieht

Dokumentarfilm | Deutschland 2011 | 96 Minuten

Regie: André Schäfer

Der Dokumentarfilm macht mit dem literarischen Werk und der Person des Schriftstellers John Irving vertraut. Irving (geb. 1942) gibt zudem Auskunft über seine Leidenschaft für das Ringen, woraus sich mannigfaltige Bezüge zu seiner Lebenswirklichkeit und seinem literarischen Schaffen ergeben. In ruhigen Bildern macht der klug konzipierte Film mit den Originalschauplätzen vieler Irving-Romane vertraut, zu denen entsprechende Zitate eingesprochen werden. Daraus resultiert eine ebenso harmonische wie sinnstiftende Symbiose aus Film und Literatur. (O.m.d.U.) - Ab 12.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2011
Produktionsfirma
Florianfilm
Regie
André Schäfer
Buch
Hartmut Kasper · Claudia E. Kraszkiewicz
Kamera
Andy Lehmann
Musik
Ritchie Staringer
Schnitt
Fritz Busse
Länge
96 Minuten
Kinostart
01.03.2012
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 12.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Er ist einer der meist gelesenen Autoren der gegenwärtigen Literatur: der US-amerikanische Schriftsteller John Irving. Seine Bücher werden schon im Vorfeld als Bestseller gehandelt, und ein neuer „Irving“ ist schon deshalb ein Ereignis, weil er stets ernste Themen mit einem locker-ironischen Stil zu vermitteln weiß – was dem Autor zeitlebens den Zutritt zur literarischen Schwergewichtsklasse erschwert hat. Im Vorgriff auf Irvings 70. Geburtstag kommt nun ein Film in die Kinos, der sowohl den literarischen als auch den persönlichen Kosmos des John Wallace Blunt jr. vorstellt, so Irvings Geburtsname und zugleich der Name seines Vaters, den er nie kennen gelernt hat. Regisseur André Schäfer trifft auf eine weltoffene Persönlichkeit, die ihn und sein Team zur selbstgebackenen Pizza einlädt und ungezwungen manches Geheimnis ihrer Arbeit und ihres Lebens preisgibt. Das Hauptverdienst des Films liegt dabei vor allem in seinem einfühlsamen Skript begründet, das aus seiner Verehrung des Autors keinen Hehl macht, gleichzeitig aber kritische Distanz wahrt. Glücklicherweise verzichtet die Inszenierung auf Ausschnitte aus Irving-Verfilmungen, macht sich vielmehr auf die Suche nach eigenen Bildern, die durch den Text nachhaltig unterstrichen werden. Die Recherche nach John Irving und seinem Werk führt so an die Originalschauplätze seiner Romane (Wien, Zürich, Amsterdam, Toronto, in die Abgeschiedenheit idyllischer kanadisch-amerikanischer Provinzen) und unterlegt diese Bilder mit Zitaten aus den Büchern. Das Resultat sind Eindrücke von ungewöhnlicher Sinnlichkeit, meist stille Landschaften und Schauplätze, die mit den getragen gesprochen Texten eine Einheit bilden. Literatur trifft Film in sinnstiftender und harmonischen Weise. Dann ist da auch noch der leidenschaftliche Geschichtenerzähler Irving, der über seine Technik des Schreibens Auskunft gibt und dabei immer wieder Vergleiche zu seiner zweiten Leidenschaft heranzieht, dem Ringen, das er über zwei Jahrzehnte lang betrieb. Nicht Genialität ist gefragt, sondern Ausdauer und Fleiß, die Fähigkeit, an sich selbst zu arbeiten, den Sinn nicht ausschließlich im Erfolg zu suchen, sondern auf dem Weg dorthin. Schließlich benötigt ein Buch mitunter fünf Jahre, während die Präsentation eines neuen Romans nur wenige Monate dauert. Das sei, so Irving, durchaus mit dem Ringen vergleichbar, in dem lange Trainingseinheiten einer kurzen Begegnung im Ring gegenüberstehen. Der Film, der diesen sportlich fitten Protagonisten präsentiert, verblüfft mit tief schürfenden Einblicken in einen literarischen Prozess, der bei Irving meist mit der Wahl der Schauplätze beginnt und dessen Gestaltung sich von hinten nach vorn, vom Ende bis zum ersten Satz entwickelt. Man erlebt einen leidenschaftlichen Autor, der die Hintergründe seiner fiktiven Geschichten akribisch recherchiert und in seinem Werk Charaktere aus dem wirklichen Leben spiegelt; etwa den Tattoo-Künstler Henk Schiffmacher aus Amsterdam, bei dem sich Irving (für „Bis ich dich finde“) nicht nur über dessen Profession informierte, sondern von dem er sich selbst Tattoos stechen ließ und an seiner Frau das Handwerk dann selbst ausprobierte. Der klug aufgebaute Film zögert die Frage nach den eigentlichen Triebfedern für das Schaffen des Autors geschickt hinaus. Erst nach einer Stunde kommen die tieferliegenden Motive zu Sprache, die zum Höhepunkt des Films überleiten. Der Familienmensch Irving zeigt sich darin von der ganz privaten Seite. Er spricht über das Glück, Kinder zu haben, die ständige Angst um sie, auch über die lebenslange Suche nach seinem Vater. Motive, die all seine Romane durchziehen. Und dann erzählt er von seinem leiblichen Vater, der wohl viele seiner Ring-Wettkämpfe besucht hat, ohne sich zu erkennen zu geben. Wovon Irving erst viel später erfahren hat. Der lohnende Dokumentarfilm stellt einen Menschen vor, der von der kindlichen Leseratte zum gefeierten Schriftsteller geworden ist und der seiner Leseleidenschaft überaus dankbar ist. Einen, den „Familiengeheimnisse“ naturgemäß anziehen, und für den Geschichten schlichtweg „Wunder“ sind, die aus dem Innersten hervordrängen und sich nicht aufhalten lassen, wenn sie einmal in Gang gekommen sind. Ganz ähnlich verhält es sich mit dem eindringlichen Porträt, das nicht nur Irvings literarischen Kosmos ausmisst, sondern dessen Schöpfer nahe bringt, der trotz seiner Erfolge ein Mensch zum Anfassen geblieben ist und sich auch vor der Kamera im karierten Baumwollhemd wohler zu fühlen scheint als in einem Smoking.
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