Os Residentes

- | Brasilien 2010 | 120 Minuten

Regie: Tiago Mata Machado

Experimenteller Film über brasilianische Hausbesetzer unterschiedlichen Alters auf der Suche nach neuen Lebensmodellen. Im Grenzgebiet von Film, philosophischem Diskurs, bildender und darstellender Kunst, Performance und Happening entsteht eine kontroverse Betrachtung zur Avantgarde mit den Mitteln des avantgardistischen Films. Diskussionssplitter über das Verhältnis der Geschlechter, über hierarchische Strukturen, Macht, Gruppendynamik und Partnerschaft verdichten sich zur Reflexion über politische und künstlerische Utopien des 20. Jahrhunderts. (O.m.d.U.) - Ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
OS RESIDENTES
Produktionsland
Brasilien
Produktionsjahr
2010
Produktionsfirma
Katasía Films
Regie
Tiago Mata Machado
Buch
Tiago Mata Machado · Cinthia Marcelle · Emílio Maciel
Kamera
Aloysio Raulino · Andréa C. Scansani
Musik
André Wakko · Juan Rojo · David Lansky · Vanessa Michellis
Schnitt
Joacélio Baptista · Tiago Mata Machado
Darsteller
Melissa Dullius · Gustavo Jahn · Jeane Doucas · Simone Sales de Alcântara · Dellami Lima
Länge
120 Minuten
Kinostart
12.07.2012
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
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Diskussion
Das Abbruchhaus im brasilianischen Bundesstaat Minas Gerais wird von ganz unterschiedlichen Menschen bewohnt. Vom Kind bis zum Greis suchen alle nach einer Verwirklichung politischer, sozialer und privater Utopien. Schnell wird allerdings deutlich, dass es sich bei „Os residentes“ nicht um ein optimistisches Sozialdrama handelt, etwa wie „Die Strategie der Schnecke“ (fd 32 230), in dem die Bewohner den vom Abriss gefährdeten Altbau vom Zentrum in die Peripherie entführen. Schon der Vorspann verortet „Os residentes“ im Grenzgebiet von Film, philosophischem Diskurs, bildender und darstellender Kunst, Performance und Happening: Im Stil des Graffiti-Künstlers Banksy werden die Darsteller in Ganzkörperpose auf eine abgeblätterte Betonmauer gesprayt; im weiteren Verlauf lässt der Film sie zu Abziehbildern der revolutionären Avantgarde werden; das Abbruchhaus wird zum Labor, bei dem die Provokationen von künstlerischer und politischer Avantgarde wiederbelebt werden sollen. Von der spielerischen Provokation mit Sexualtabus, die an die Aktionen der Surrealisten der 1920er-Jahre erinnern, wenn abgeschnittene Schamhaare zum Schnurrbart arrangiert werden, führt der Weg zur politischen Aktion: Eine blonde Frau im roten Kleid wird entführt und gefesselt in einer leeren Badewanne gehalten. Der Entführer sitzt mit heruntergelassener Hose auf der Toilettenschüssel und liest dabei aus revolutionstheoretischen Schriften vor. Offensichtlich fällt der Diskurs auf fruchtbaren Boden, denn wenig später versucht die Gefangene mit gefesselten Händen ein Kartenhaus aus den revolutionären Büchern zu bauen. Allerdings stürzt es am Ende wieder ein. Wenn man sich darauf einlässt, ist „Os residentes“ ein interessantes Vexierspiel der Rhetorik vergangener Revolutionen. Immer wieder zitiert der Film Fragmente vergangener Protestkultur der 1960er- und 1970er-Jahre. So ist auf einer Schrankwand deutlich das Wort „Estetica“ zu lesen. Eine junge Frau kommt und sprüht einen Akzent auf das „E“, öffnet einige Türen, und aus „Estetica“ (Ästetik) wird Ética (Ethik) – Basis ist ein Hinweis auf ein Lenin-Zitat, dass die Ethik die neue Ästhetik der Zukunft sei. An anderer Stelle werden Szenen aus Harun Farockis schwarz-weißem Kurzfilm „Die Worte des Vorsitzenden“ integriert. Die Rhetorik der Revolte wird auf eine avantgardistische Spielwiese reduziert, wenn der Mann, der immer die Straße fegt, plötzlich den Besen auf die Schulter legt wie ein Gewehr und dann zur entsprechenden Geräuschkulisse vor der kahlen Hauswand Nahkampf und Befreiungskrieg simuliert. „Os residentes“ ist eine illusionslose Betrachtung zur Avantgarde mit Mitteln des avantgardistischen Films, eine Art Rollenspiel der revolutionären Utopie, Diskussionssplitter über das Verhältnis der Geschlechter, über hierarchische Strukturen, Macht, Gruppendynamik und Partnerschaft. Dabei kontrastiert die hervorragende Kamera mit der trockenen Absurdität der Handlung und einer entfesselten Tonspur. Es ist ein Film, der selten Indifferenz hervorruft, oft aber heftige Reaktionen, Buhrufe und den vorzeitigen Abgang vieler Zuschauer, während die anderen begeistert sind. Der 39-jährige Regisseur Tiago Mata Machado kommt von der Videokunst und betrachtet seinen zweiten Spielfilm primär als ein Experiment zur Avantgarde. Das Abbruchhaus wird zum Labor für die Ideen unterschiedlicher kreativer und revolutionärer Avantgarde des 20. Jahrhunderts, bis sie am Ende ihr Haus den Abrissbaggern überlässt. Mit dem ideologischen Gerüst ist auch der Ort selbst, die Bühne für die Lebensentwürfe, obsolet geworden.
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