Drama | Deutschland 2012 | 90 Minuten

Regie: Tim Staffel

Ein junger Deutschtürke führt in Westerland auf Sylt ein geordnetes Leben. Er verliebt sich in einen Streuner mit Borderline-Syndrom und beginnt eine Beziehung, die immer mehr zur Symbiose wird und die Außenwelt ausschließt. Elliptisch erzählt der Film von einer "Amour fou", die einer Auflösung der beiden ineinander gleichkommt. Die Einbettung der Figuren in die Landschaft weitet den Blick und konterkariert die Abgeschlossenheit der Zweisamkeit. Jenseits der Darstellungsklischees entsteht eine dichte poetische Reflexion über die Liebe. - Ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2012
Produktionsfirma
Salzgeber & Co.
Regie
Tim Staffel
Buch
Tim Staffel
Kamera
Fabian Spuck
Musik
Alexandra Holtsch
Schnitt
Ute Schall
Darsteller
Wolfram Schorlemmer (Jesús) · Burak Yigit (Cem) · Tamer Arslan (Erol) · Jule Böwe (Tanja) · Maxim Mehmet (Rupert)
Länge
90 Minuten
Kinostart
21.02.2013
Fsk
ab 16 (DVD)
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama
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Heimkino

Verleih DVD
Salzgeber (16:9, 1.78:1, DD5.1 dt.)
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Diskussion
Jesús findet, dass die Farben in Roland Klicks Spielfilm „Supermarkt“ (fd 18 693) aus dem Jahr 1973 komisch aussehen. Wobei aus seinem Tonfall weniger ein Geschmacksurteil als eine tiefe Beunruhigung herauszuhören ist. Jesús schaut Filme ohne Ton, und in der Badewanne behält er sein T-Shirt an. Jesús ist ein schmaler Junge mit dünnem Körper, doch was er an Widerstand in die Welt setzt, insbesondere in die Welt des aufgeräumten Cem, ist massiv. Als Streuner und Gestrandeter in Westerland auf der Insel Sylt hat er sich die Routine erworben, im Vorbeigehen schnell noch ein paar Zigaretten oder einen Geldschein mitgehen zu lassen; auch seine bulimischen Neigungen weiß er, durch Tricks zu verbergen. Die meiste Zeit über steht er aber kantig mitten im Weg und schreit nach Aufmerksamkeit. Schon als er sich am Anfang des Films eine Tüte über den Kopf zieht, setzt er sich dazu exponiert auf die Rückenlehne einer Bank: Jesús, der Egomane und Borderliner, versteht es, jederzeit eine Bühnensituation zu etablieren; vielleicht spricht er deshalb davon, Schauspieler werden zu wollen. Wie Jesús und Cem zum Liebespaar werden, zur symbiotischen Einheit und schließlich zum sich selbst und den anderen zersetzenden Abhängigkeitsknäuel, das lässt sich nur erahnen. Tim Staffel, der für seinen Debütfilm seinen Roman „Jesús und Muhammed“ adaptierte, erzählt elliptisch, zudem gezielt vorbei an den Standards filmischer Darstellungsweisen von Liebe und Begehren. Irgendwann ist die Luftmatratze, die Cem dem wohnungslosen Jesús zum Schlafen hingelegt hat, weg, und die beiden teilen das Bett. Doch selbst danach sieht man weder Sex noch Küsse oder andere Zärtlichkeiten; dass all das trotzdem stattfindet, ist offensichtlich, nur interessieren Staffel andere Ausdrucksformen von Hingabe und Begehren: das gemeinsame Sich-Wegschließen von der Welt, die daraus folgende Identitätszerfaserung, die in der Art sichtbar wird, wie Cem, der Nichtraucher, seinem Freund ganz selbstverständlich eine Zigarette dreht. Und in Cems mimetischen Antworten auf Jesús Gekiffe und Gekotze. Dass diese Symbiose bis zum Ende interessant bleibt, liegt an ihren Voraussetzungen: Cem hat am Anfang einen klaren Plan für seine Zukunft und ein ebenso klares Bild von der Welt. Er ist Mitarbeiter beim Ordnungsamt, mit seinem signalorangefarbenen Overall wirkt er in der farbentsättigten Insellandschaft wie ein Leuchtturm, solide und tüchtig. An der Abendschule holt er sein Abitur nach, um später im Fernstudium Landschaftsarchitektur zu studieren. Cem hat Freunde und Familie; bei der Arbeit singt er mit dem deutschen Arbeitskollegen türkische Lieder. Das Festland hat er nie gesehen. „Was soll ich da?“, fragt er. „Ich mag, was ich mache.“ Bald aber verengt sich die ohnehin überschaubare Welt noch mehr – auf eine Beziehung, die buchstäblich kein Außen mehr kennt. Die kleine Wohnung im hässlichen Neubaukomplex (mehr Berlin-Marzahn als Insel-Architektur), brutal hineingestellt in die schöne Landschaft, wird zur hermetischen Kapsel, zum „Reich der Finsternis“, wie Cems Freund Erol es nennt. Trotz des psychodramatischen Settings weiß Staffel die Geschichte offen zu halten, was sich auch seiner verknappten Erzählweise verdankt, die eher Situationen abbricht als Konflikte ausbuchstabiert. Ein Kammerspiel wird „Westerland“ dennoch nie. Immer wieder öffnet sich der Film der Landschaft und zeigt in Totalen, wie Cem und Jésus am Strand entlanglaufen, Rad schlagen, wie sie Schiffen und Güterzügen zusehen. Diese Szenen mögen etwas sehr Beiläufiges und Unspezifisches haben, brauchen vielleicht aber auch nicht mehr als das: zu zeigen, dass da Raum ist und Luft zum Atmen.
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