Akt - 4 Leben ein Akt

Dokumentarfilm | Deutschland 2015 | 104 Minuten

Regie: Mario Schneider

Essayistischer Dokumentarfilm über vier Menschen, die in der Kunst- und Designschule in Leipzig als Aktmodelle vor Kunstschaffenden ihre Kleider ablegen. Drei von ihnen sind vom Schicksal gezeichnet, haben sich aber aus widrigen Umständen herausgearbeitet; eine wechselt als Kunststudentin ebenfalls die Perspektive. Der behutsame, fein strukturierte Film folgt ihnen ausschnitthaft zu Sitzungen und in ihr Leben, wobei er visuell wie emotional flirrende Momente mit fließend-schwebenden Bewegungen umkreist. Eine Liebeserklärung ans Leben und an den menschlichen Körper, der seine Narben mit Würde trägt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
42film/MDR
Regie
Mario Schneider
Buch
Mario Schneider
Kamera
Friede Clausz
Musik
Cornelius Renz · Mario Schneider
Schnitt
Gudrun Steinbrück · Mario Schneider
Länge
104 Minuten
Kinostart
14.04.2016
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
Externe Links
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Mario Schneider porträtiert vier Menschen, die in Leipzig Akt stehen.

Diskussion
Schlicht „Akt“ hat Mario Schneider seinen Dokumentarfilm überschrieben und ihm den Untertitel „4 Leben ein Akt“ verpasst. Doch was bedeutet dieser „Akt“? Ist damit Sex gemeint, ein Liebesakt? Oder eine Episode, ein Aufzug in einem Drama, welches das Leben schrieb? Oder steht dahinter, streng etymologisch begründet, der Akt als ein vom Lateinischen Verb „Agere“ hergeleiteter Handlungsbegriff? Schnell zeigt sich, dass nochmal etwas anderes gemeint ist: der aus der bildenden Kunst stammende Begriff für die Darstellung eines nackten menschlichen Körpers; ein in stiller Pose verharrender Mensch, von einem Künstler im fliegenden Strich auf Leinwand oder Papier gebannt. „Auf dass man tausend Jahr, nachdem wir starben, sehe, wie schön ihr wart…“, stellt Schneider ein Zitat von Michelangelo voran und beginnt mit Szenen, die jedem Kunststudenten wohlvertraut sind: eine junge Frau, die in einem Museumslager eine Statue skizziert, ein Atelierraum, in dem fleißige Menschen sich hochkonzentriert über ihre Staffeleien und Zeichnungsblöcke beugen, während in der Raummitte eine Person den Blick in eine unbestimmte Ferne richtet und ewige Minuten lang in unnatürlicher Starrheit verharrt. Dieser Moment habe, sagt einer, der so dasitzt, etwas Meditatives an sich: Die Gedanken gerieten dabei unweigerlich ins Schweifen, wenn man so stehe, hocke, sitze, liege. Der Film fängt diese flirrenden Momente mit fließend-kreisenden Aufnahmen ein. Körper, Härchen, Poren, Runzeln, Falten, Muttermale, Narben, Tattoos, übergroß, sieht man auf der Leinwand. Die Tonspur, sonst meist „naturbelassen“, blendet die Atmosphäre aus und verwendet sehr passend Musik: Jazzige Eigenkompositionen, Alessandro Grandis „O quam tu pulchra es“, eine Sinfonie von Mahler oder ein Valse von Maurice Ravel; auch Bach, Vivaldi sowie Lieder von Uta Pilling („Was ist schon Zeit?“) finden sich im Soundtrack. Uta Pilling ist eine von vieren, die in „Akt“ Modell sitzen. Die heute 66-Jährige, in deren Gesichtszügen etwas männlich Herbes liegt, wurde im Mutterleib bereits für tot erklärt, bevor sie, dann doch atmend geboren, nach Monaten apathischer Reaktionslosigkeit zum Leben fand. Pilling hat fünf Kinder von vier Männern. Verheiratet war sie allerdings nur mit einem, der allen seinen Namen, aber nicht die Hautfarbe vererbte. Früher tingelte sie mit ihren Kindern singend durch den Süden, heute trifft man sie mit ihrer Handorgel alleine in den Fußgängerpassagen von Leipzig. Das Leben von Uta Pilling böte problemlos Stoff für einen ganzen Film. Schneider aber erzählt in Splittern. Er verweilt, wie die Aktmalerei, oft in der Schwebe, zeigt Ausschnitte, losgelöste Momente aus dem ewigen Fluss des Seins. Auch die zweite und dritte Person, die man darin als Modell antrifft, sind vom Schicksal gezeichnet. Sie sei in ihrem Leben einmal falsch abgebogen, sagt die 50-jährige Tina. Und Max, der mit einer doppelten Gaumen-Kiefer-Spalte geboren wurde, sagt, er hätte nie gedacht, dass sein Körper als Vorlage für Kunst interessant sein könnte. Doch die Schönheit liegt im Auge des Betrachters, und sie tut dies in „Akt“ in doppelter, wenn nicht gar dreifacher Weise. Da sind die Blicke der Kunststudenten und Schüler der Leipziger Kunst- und Designschulen und Aktzeichnungsklassen, da sind die Blicke des Filmteams und nicht zuletzt derjenige der Zuschauer. Unter den Kunststudenten findet sich Schneiders vierte Protagonistin: Annette, 26-jährig, im zweiten Semester Studentin der Hochschule für Grafik und Buchkunst in Leipzig. Sie setzt sich in ihren eigenen großformatigen Werken mit menschlicher Nähe, dem „Halten und Festgehalten werden“ auseinander, steht selbst Modell und schlägt in „Akt“ den Bogen. Annette erzählt nicht aus ihrem Leben, sondern von ihrer künstlerischen Arbeit und unterhält sich mit einem Lehrer darüber. So wird „Akt“ zum fein durchdachten und behutsam inszenierten Film. Eine Augenweide, zu schauen. Aber auch ein Werk, das in faszinierender Fusion von Kunstdiskurs und Wirklichkeitswiedergabe zum Denken anregt.
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