Dokumentarfilm | Niederlande/Belgien 2015 | 74 Minuten

Regie: Sergej Loznitsa

Kameraleute des Leningrader Dokumentarfilmstudios filmten zwischen dem 19. und 24. August 1991, wie sich die Einwohner ihrer Stadt gegen den antidemokratischen Putsch stalinistischer Funktionäre wehren. Der Dokumentarist Sergej Loznitza belässt diese Bilder in ihrem ursprünglichen Fluss und verzichtet auf einen eigenen Kommentar. Damit zeigt er, wie für einen Moment die Zuversicht überwog, dass auch in Russland Demokratie möglich sein könnte und dass eine unübersehbare Menge bereit war, dafür auf die Straße zu gehen. Eine archäologische Recherche, interessant auch als Gegenentwurf zu Sergej Eisensteins Revolutionsepos „Oktober“ (1927). - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
SOBYTIE
Produktionsland
Niederlande/Belgien
Produktionsjahr
2015
Produktionsfirma
Atoms & Void
Regie
Sergej Loznitsa
Buch
Sergej Loznitsa
Kamera
Dmitri Siduriv
Schnitt
Sergej Loznitsa · Danielius Kokanauskis
Länge
74 Minuten
Kinostart
26.05.2016
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Sergej Loznitsa erinnert an den russischen Aufstand für Demokratie von 1991

Diskussion
Am 19. August 1991, um 16 Uhr, meldet der Moskauer Rundfunk, dass im Land für sechs Monate der Ausnahmezustand ausgerufen worden sei. Schnell verbreiten sich Gerüchte. Funktionäre der kommunistischen Jugendorganisation Komsomol hätten einen Staatsstreich verübt und Michail Gorbatschow, den ersten Mann im Kreml, abgesetzt und ermordet. Seine Reformen würden zurückgenommen. Perestroika und Glasnost seien auf ganzer Linie gescheitert. Stalinistische Reaktionäre griffen erneut nach der Macht. In dieser Situation, angesichts eines „verfassungsfeindlichen Staatsstreichs“, mischen sich Kameramänner des damaligen Leningrader, heute wieder St. Petersburger Dokumentarfilmstudios unters Volk. Sie gehen auf die Straßen und Plätze ihrer Stadt, filmen Ansammlungen und Streiks, den Bau von Barrikaden, die blitzschnellen Reaktionen von Perestroika-Anhängern durch Flugblätter, Sprechchöre oder Transparente. Die Bilder gehen um die Welt, werden zu stakkatohaften Reportagen zusammengeschnitten, halten Einzug in unzählige Fernsehsendungen, stets begleitet von mehr oder weniger klugen Kommentaren. Rund 25 Jahre nach jenen Ereignissen, die fast am Ende des zerfallenden sowjetischen Weltreichs standen, holt Sergej Loznitsa diese Bilder noch einmal aus dem Archiv. Er macht aus ihnen kein nachholendes Montagepotpourri, sondern lässt sie bedächtig fließen, ohne erklärende Worte, als Dokumente ihrer Zeit. Eine Chronik der laufenden Leningrader Ereignisse zwischen dem 19. und dem 24. August 1991, nur durch wenige Schwarzblenden strukturiert, zu denen ein paar Takte aus Tschaikowskis „Schwanensee“ erklingen. Zu sehen sind Hunderttausende Demonstranten, die ins Offene treten, um die Perestroika zu verteidigen: „Nein zur Diktatur!“ steht auf handgeschriebenen Plakaten, oder: „Der Faschismus kommt nicht durch.“ Ein Redner spricht über die Hoffnung, dass die gegenwärtigen Ereignisse „den letzten Tropfen der Sklaverei aus uns heraustreiben und uns wieder zu Menschen machen“. Zugleich werden Befürchtungen artikuliert, so wie in einem zur Gitarre gesungenen Lied: „Und noch lange wird uns das Geräusch von Schritten an der Tür erschrecken. Und wir werden die Menschen noch lange in Freund und Feind unterteilen...“ Und doch zeigt der Film, dass für ein knappes Zeitfenster die Zuversicht überwog, dass auch in Russland Demokratie möglich sein könnte, und dass eine unübersehbare Menge, Alte und Junge, Arbeiter und Intellektuelle, dafür bereit war, auf die Straße zu gehen. Das Volk als Souverän: aufrecht, mutig, selbstbewusst. Loznitsa 2015: „Mein Film funktioniert fast wie eine archäologische Recherche. Zum Jahrestag des Todes der drei Demonstranten vom August 1991 kamen in Moskau jetzt gerade mal hundert Leute...“ Einmal huscht Wladimir Putin durchs Bild; der Zuschauer ahnt, dass er bereits damals im Hintergrund kräftig an den Strippen der Macht zog. Von Gorbatschows Nachfolger Boris Jelzin, der sich einst selbst zum Hoffnungsträger aufspielte, bleibt im Film nur ein Spottgedicht: „Onkel Boris, faules Schwein, zu nichts nutze, stinkst nach Wein. Leer vom Alkohol sein Kopf, von der Brücke fällt der arme Tropf...“ Während auf den Straßen von Leningrad noch über das Wohl und Wehe der Reformen gestritten wird, werden in Hinterzimmern der Politik, in die kein Kameramann vorgelassen wurde, längst neue Verbindungen geschmiedet. Sergej Loznitsa verweist darauf in seinem knappen, bitteren Schlussinsert: Die Verbrechen der Sowjetzeit wurden nie gesühnt. Die alten Funktionäre blieben meist an der Macht. Filmhistorisch spannend ist „The Event“ nicht zuletzt als Epilog oder auch Gegenentwurf zu Sergej Eisensteins „Oktober“, mit dem 1927, zum 10. Jahrestag der Oktoberrevolution, die Leninsche Revolte gefeiert wurde. Die inszenierten Bilder Eisensteins wurden bald als Dokumente genutzt, ihr Pathos machte weltweit Furore. Loznitsa, dessen Film zum Teil zu denselben Drehorten zurückkehrt, zeigt eine andere Wahrheit: die Revolution im Zwischenreich zwischen Zuversicht und Bitternis.
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