Ein Kind zur Zeit - The Child in Time

Drama | Großbritannien 2017 | 93 Minuten

Regie: Julian Farino

Ein Autor von Kinderbüchern und Regierungsberater wird nach dem Verschwinden seiner vierjährigen Tochter von Trauer und Schuldgefühlen überwältigt und von seiner Frau verlassen. Allein in seinem Apartment lebt er in einem konsequenten Erinnerungskult an seine Tochter, deren Gestalt ihm auch immer wieder erscheint, bis er durch ein neues Projekt wieder Lebensmut schöpft. In der Hauptrolle brillant gespielte Adaption des gleichnamigen Romans von Ian McEwan als Kammerspiel von Schuld und Sühne. Während einige Bebilderungen des Trauerzustands und die Ähnlichkeit mit realen Fällen verschwundener Kinder eher irritieren, setzt der Film die komplexen Handlungsstränge glaubwürdig um und bleibt bemerkenswert deutungsoffen. - Ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
THE CHILD IN TIME
Produktionsland
Großbritannien
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
BBC/Masterpiece/Pinewood Pictures/SunnyMarch
Regie
Julian Farino
Buch
Stephen Butchard
Kamera
David Odd
Musik
Adrian Johnston
Schnitt
Kristina Hetherington
Darsteller
Benedict Cumberbatch (Stephen Lewis) · Kelly MacDonald (Julie) · Stephen Campbell Moore (Charles) · Saskia Reeves (Thelma) · Beatrice White (Kate)
Länge
93 Minuten
Kinostart
05.07.2018
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Ab 16.
Genre
Drama | Literaturverfilmung
Externe Links
IMDb | TMDB | JustWatch

Heimkino

Verleih DVD
StudioCanal (16:9, 1.78:1, DD5.1 engl./dt.)
Verleih Blu-ray
StudioCanal (16:9, 1.78:1, dts-HDMA engl./dt.)
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Diskussion

In der Hauptrolle brillant gespielte, komplex angelegte Adaption des gleichnamigen Romans von Ian McEwan über einen Kinderbuchautor, der mit der Trauer über seine spurlos verschwundene Tochter zu kämpfen hat.

„Ein Kind zur Zeit“ gibt Benedict Cumberbatch einmal mehr ausführlich Gelegenheit, sein Porträt des modernen Engländers in der Krise weiter im Detail auszuarbeiten. Es ließe sich da von den Rollen in „Parade’s End – Der letzte Gentleman“ über „Patrick Melrose“ bis zu „Ein Kind zur Zeit“ durchaus eine Verbindung ziehen, zu der am Rande ebenso Figuren wie Sherlock oder Peter Guillam in „Dame, König, As, Spion“ zählen. Den meisten ist zu eigen, dass Cumberbatch alle Möglichkeiten erhält, den Zuschauer auf vielfältige Art und Weise zu beeindrucken, zu bestricken, zu verführen und auch: zu täuschen.

So geschieht es auch in der Romanverfilmung nach Ian McEwan, wo Cumberbatch die Rolle von Stephen Lewis spielt. Lewis ist ein Autor von Kinderbüchern und Regierungsberater, der in einem fatalen Moment der Unaufmerksamkeit sein einziges Kind, die vierjährige Kate, „verliert“ und nun mit seinem Verlust, seiner Trauer, seinen Schuldgefühlen und mit seiner meist stumm anklagenden Frau Julie (Kelly Macdonald) und wenigen guten Freunden weiterleben muss. Dabei und natürlich auch im Folgenden zeigt sich Benedict Cumberbatchs akkurates, angemessenes Körperspiel, seine nie entgleisende, vieles nur andeutende Mimik, hinter der sich ganz eigene Abgründe verbergen mögen. Als Stephen von einer Vertrauten einmal gefragt wird, ob sie da wohl eben so etwas wie eine Gefühlsregung an ihm wahrgenommen habe, entgegnet er, ganz „stiff upper lip“: „Nein, das ist nur eine Bindehautentzündung...“

Nachdem sich das Paar faktisch getrennt hat und Julie von London aufs Land gezogen ist, bleiben Stephen, der in seinem verwaisten Stadtapartment ein quasi mönchisches Leben im Dienst des Erinnerungskults an seine Tochter führt, nur noch die Freunde, unter ihnen Charles Darke (Stephen Campbell Moore), sein Verleger und Staatssekretär im Bildungsministerium. Charles, verheiratet mit einer deutlich älteren Frau von mütterlicher Anmutung, Thelma (Saskia Reeves), ist von koboldhaftem Charme, ein Spieler, sichtlich ein Junge im dunklen Anzug des Geschäftsmannes.

Der Film entfaltet ein reiches Netz von Motiven und Anspielungen

Von dieser Konstellation ausgehend, entfaltet der Film ein reiches und vieldeutiges Netz von Motiven und Anspielungen rund um die Themenkomplexe „Zeit“ und „Erinnerung“, „Kindheit“ und „Erwachsenenwelt“, das sich teilweise recht weit von den Anlagen der Romanvorlage entfernt, in sich jedoch stimmig erscheint. Als Zuschauer lernen wir dabei den eher wortkargen Stephen allmählich besser kennen: Er bewahrt Kates Zimmer im Originalzustand und schmückt es jahreszeitlich; er spricht mit ihr über ein Walkie-Talkie aus dem Wohnzimmer; er spürt und sieht sie auf seinen Wanderungen; bestimmte (Erinnerungs-)Orte scheinen den „Blick durch die Zeit“ zu begünstigen (filmästhetisch nicht uninteressant sind es stets quadrierte Fensterblicke). Diese Bebilderung weckt allerdings ebenso ambivalente Gefühle wie die offenbar bewusst in Kauf genommene Ähnlichkeit der verschwundenen Kate mit dem realen Fall von Maddie McCann. Hilfreich ist beides eher nicht.

Stephens Reise durch die Zeit trägt zusätzlich romantisch-nostalgische Züge und ist letztlich seiner Selbsterkenntnis und Selbstvergewisserung dienlich, umso mehr als er als Schriftsteller seine Kunst zur Kompensation defizitären Daseins nutzbar machen kann: Er startet ein neues Buchprojekt über einen Jungen, der unbedingt ein Fisch sein möchte, nicht zuletzt, so ist aus einem erklärenden Kommentar durch Stephen zu erfahren, weil er sich vorstellt, dass ein Fisch jeden Tag ohne Erinnerung an den vorigen beginnt. Dafür übt er auch in der heimischen Badewanne das Luftanhalten, was dem Film sehr willkommene Komikmomente beschert. Stephens bestem Freund Charles bekommt die Lust an der Regression ins urnatürliche Element der Kindheit sehr viel weniger gut, da er sie nicht zu beherrschen und zu integrieren weiß und kindlich und kindisch miteinander verwechselt. Wenn er in kurzen Hosen und bunten Sweatshirts mit zunehmend verwildertem, irrlichterndem Blick in den Wäldern herumspringt und den Plan verfolgt, dort in einer selbst gezimmerten Baumhöhle zu hausen, kann das natürlich nicht gut ausgehen.

Dem Film gelingt es, diese vielfältigen und komplexen, teilweise esoterischen Motive und Handlungsstränge dramaturgisch glaubwürdig und szenisch angemessen zu präsentieren, schließlich sogar ein versöhnliches, auf zukünftige Zeiten gerichtetes Finale für Stephen und Julie anzudeuten. Im Kern ein Kammerspiel von Schuld und Sühne, nimmt er sich die nötige Zeit, um seine gewichtigen Themen ohne übermäßige Vereinfachungen zu behandeln, und lässt dabei Raum für die unterschiedlichsten Deutungen.

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