Der Geiger von Florenz

Komödie | Deutschland 1925/1926 | 90 Minuten

Regie: Paul Czinner

Eine junge, willensstarke Frau setzt sich als Junge verkleidet nach Italien ab, nachdem sie auch die Ferien in einem Schweizer Internat verbringen soll. In Florenz wird sie als „Knabe“ von einem Maler in sein Haus aufgenommen und steht ihm Modell. Während jenseits der Grenze ihr Vater durch das Gemälde „Geiger von Florenz“ auf die Spur der verschwundenen Tochter kommt, erlebt diese das Aufblühen der Gefühle für ihren Gastgeber. Erfrischender Stummfilm von Paul Czinner mit Elisabeth Bergner in einer Hosenrolle, die aus den biederen Elementen des Stoffs ein virtuoses Befreiungsstück macht, in dem dem Geschlecht eine dezidiert fließende Rolle zugewiesen wird. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1925/1926
Produktionsfirma
UFA Berlin
Regie
Paul Czinner
Buch
Paul Czinner
Kamera
Otto Kanturek · Adolf Schlasy · Arpad Viragh
Musik
Giuseppe Becce · Uwe Dierksen (Neukomposition 2018)
Darsteller
Elisabeth Bergner (Renée) · Conrad Veidt (Renées Vater) · Nora Gregor (Renées Mutter) · Walter Rilla (Maler) · Grete Mosheim (Schwester des Malers)
Länge
90 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Komödie | Stummfilm
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Die DVD-Ausgabe enthält auch die Exportfassung des Films sowie ein Booklet mit einem Text von Anke Wilkening und einem Interview mit Uwe Dierksen zur neuen Musik.

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Eine junge Frau zwischen dem Bedienen gutbürgerlicher Konventionen und dem unzügelbaren Verlangen nach Ausbruch und Neuanfang. Renée ist auch nach dem Tod ihrer Mutter wohlbehütet unter den Fittichen ihres über alles geliebten Vaters. Doch der scheint die bleierne Trauer wegen des Verlustes eines lieben Menschen schneller zu überwinden als die Tochter und bereit für einen grundlegenden Neuanfang zu werden. Während die junge Erwachsene immer noch meint, den Platz ihrer Mutter im Leben des Vaters einnehmen zu können, hat der bereits den Fokus seiner Aufmerksamkeit neu justiert und eine neue Liebe für sich und eine Stiefmutter für Renée ausgemacht. Die logische Folge, als die neue Frau im Haus der Familie einzieht, ist ein schwelender Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit des Vaters. Ein Kampf, dessen Glutnester sich immer wieder in heftigen Psychospielchen bahnbrechen.

Es kommt, wie es kommen muss. Der Vater macht von seiner erzieherischen Macht Gebrauch, schickt Renée in ein Pensionat für wohlzuerziehende Frauen nach Lausanne und befeuert dadurch nur noch die Katastrophe. Natürlich lässt sich die impulsive junge Frau auch auf dem Land nichts von knöchernen Gouvernanten sagen und ergreift nach einer neuerlichen Eskalation kurzerhand die Flucht an die italienisch-schweizerische Grenze. Doch was tun mit wenig Geld und keinem gültigen Pass? Ein freundlicher Italiener ermöglicht ihr mit „ausgeliehener Identität“ den Übergang in die vermeintliche Freiheit. Und in der Tat: ab da meint es das Schicksal gut mit dem nun mit Jacke, Hemd und Hose als Junge firmierenden Flüchtling. Ein Künstler aus gutem Hause wird den „Jüngling“ auflesen und ins Landhaus vor den Toren von Florenz aufnehmen, in dem er mit seiner Schwester lebt. Während jenseits der Grenze der Vater alles in Bewegung setzt, um seine Tochter zu finden, erlebt sie unter der Sonne Italiens das Aufblühen der Gefühle. Als Model und Muse, aber auch als Objekt von Freundschaft und Begierde, als das sich Renée zwischen dem Maler und seiner Schwester positioniert sieht.

Es ist ein Sujet, prädestiniert fürs kulturelle und sexuelle Aufbegehren der 1920er-Jahre: In jener kurzen Phase zwischen den Weltkriegen, in der in Deutschland einfach alles möglich schien. So zum Beispiel auch die Karriere der Theaterschauspielerin Elisabeth Bergner (1897-1986): Ein Shooting Star, der an der Seite seines Film-Mentors und späteren Lebensgefährten Paul Czinner mit dem Typus „des mädchenhaften Knaben“ und „der knabenhaften kindlichen Frau“ (Filmkritiker Fred Gehler) spielte wie kaum eine andere im deutschen Film dieser Zeit. Kongenial integrierte Regisseur Czinner den Ruf seiner Hauptdarstellerin ins Drehbuch für „Der Geiger von Florenz“ und machte aus dem biederen Vater/Tochter-Geplänkel ein virtuoses Befreiungsstück, in dem dem Geschlecht eine dezidiert fließende Rolle zugewiesen wird.

Sicher, in der Rahmenhandlung zeigt sich auch dieser Film von 1925/26 bieder und stellt die Rollenzuweisungen nicht infrage. Über allem thront der von Conrad Veidt mit charismatischer Selbstherrlichkeit gespielte Vater, der sein Kind gelehrt hat, der Etikette zu folgen und die väterliche Autorität zu achten. Doch bevor am Ende wieder alles seine geregelten Bahnen geht, reißt Elisabeth Bergner den Zuschauer und (wie es scheint, auch das Drehbuch, das vielleicht lieber woanders hinwollte) mit: In einer erfrischenden Selbstverständlichkeit werden hier verkrustete Verhaltensmuster gesprengt und Geschlechterbilder dekonstruiert, sodass es schnell egal scheint, wer unter welcher Prämisse hier wen umgarnt oder gar küsst.

Vielleicht war es gerade die Freizügigkeit, die dem Film seine eklatanten Kürzungen bescherte, die in einer um gut ein Viertel gekürzten US-Exportfassung gipfelten. Für lange Zeit verstümmelt, gelang es mittels eines im Bundesarchiv aufgetanen englischen Zweitnegativs, aus allen Einzelteilen wieder jene nun präsentierte Fassung zu rekonstruieren, die der verschollenen Premierenfassung sehr nahekommt. Zu der Grundlagenarbeit der Friedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung unter Federführung von Anke Wilkening gesellt sich nun eine interpretatorische Ergänzung, die einmal mehr von ZDF/arte verantwortet wurde: War das Original noch mit einer Musik von Giuseppe Becce versehen, erklingt die Restaurierung nun mit einer Musik von Uwe Dierksen. Diese für kleines Ensemble (Geige, Klavier, Posaune, Cello) geschriebene, ganz im Geist klassischer Stummfilmmusik gehaltene Kammermusik lässt dem Film und seiner Darstellungskunst gleichsam Luft zum Atmen, ohne dass der unterstreichende Aspekt der Spannungsgebung dabei zu kurz kommt. Fragmente aus dem neapolitanischen Gassenhauer „Santa Lucia“ von 1849 geben der italienischen Episode die folkloristische Farbe. Doch die Musik verkommt zu keiner Zeit zur Burleske. Dafür sorgen nicht zuletzt die emotionalen Ausrufezeichen, wenn etwa der pointiert eingesetzt wabernde Klang der Melodika die innere Spannung der Protagonistin wiedergibt.

Arte zeigt die Premiere dieser restaurierten Fassung (wie leider gewohnt) zu nachtschlafender Zeit, präsentiert den Film aber für längere Zeit in seiner Mediathek, sodass man diesen kleinen Stummfilmschatz ganz nach Bedarf ganz für sich entdecken kann.

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