Der Klang der Stimme

Dokumentarfilm | Schweiz 2018 | 82 (TV: 50) Minuten

Regie: Bernard Weber

Dokumentarische Annäherung an das Urphänomen der menschlichen Stimme und deren gewaltige Ausdrucksmöglichkeiten. Der leichte, ebenso assoziativ wie sorgfältig arrangierte Film stellt Vertreter der Stimmforschung, Musiker und eine Sprachtherapeutin vor, die aufzeigen, welche unterschiedlichen Zugänge es zur Stimme geben kann, aber auch welche Anstrengungen ihre klangliche Ausformung erfordert. Berührend und anschaulich, fesselt der elegant inszenierte Dokumentarfilm durch seine Genauigkeit und seine dramaturgisch frische Herangehensweise, wobei er nicht vorgibt, die Magie der Stimme gänzlich ausdeuten zu wollen. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
DER KLANG DER STIMME
Produktionsland
Schweiz
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Artisan Films
Regie
Bernard Weber
Buch
Bernard Weber
Kamera
Pierre Mennel · Bernard Weber
Schnitt
Stefan Kälin · Dave D. Leins
Länge
82 (TV: 50) Minuten
Kinostart
01.11.2018
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion

Dokumentarische Annäherung an das Urphänomen der menschlichen Stimme und deren gewaltige Ausdrucksmöglichkeiten. Der sorgfältig arrangierte Film stellt Vertreter der Stimmforschung, Musiker und eine Sprachtherapeutin vor und fesselt durch Anschaulichkeit und seine frische Herangehensweise.

Alles begann für Andreas Schaerer mit einem rosafarbenen Plättchenboden im heimischen Badezimmer. Als kleiner Junge hatte er diese Formen und Muster quasi „angesungen“ und sie in ihrer künstlerischen Struktur „studiert“: So als ob sie die Farben und Nuancen einer musikalischen Partitur hätten. Viele Jahre später arbeitet der sympathische Schweizer Musiker nun als bekannter Stimmakrobat in seinem Heimatland: Er experimentiert sozusagen permanent mit allen ihm zur Verfügung stehenden Resonanzräumen. Sein lautmalerisches Repertoire passt in keine Schublade und reicht inzwischen von Free Jazz über Filmmusik bis hin zu avantgardistischen Beatbox-Klängen oder elektronischen Sounds, wofür er mittlerweile auch ein interessiertes Stammpublikum gefunden hat.

Schaerer ist nur einer von vielen starken Protagonisten in Bernard Webers ausgezeichneter dokumentarischer Annäherung an das Urphänomen der menschlichen Stimme. Wenngleich Webers Filmtitel „Der Klang der Stimme“ anfänglich etwas arg trocken klingt, so entfaltet sich doch bereits in den ersten zwanzig furiosen Minuten ein ganzes Spektrum an Sinnen, Eindrücken und Faszinosa, die allesamt um das elementarste aller Instrumente kreisen: Den sprichwörtlichen Klang eines jedes Menschen, sprich seine unvergleichliche und nicht kopierbare individuelle Stimme, die im Grunde einem einzigen gewaltigen Resonanzraum gleicht, obwohl ihn viele Menschen weder in ihrem Alltag noch in ihrer Freizeit wirklich ausnutzen. So viel wird schnell klar bei der Sichtung dieser thematisch hochklassigen arrangierten und sorgfältig geschnittenen Dokumentarfilmreise in die fesselnde Welt der Stimmen und Klänge, die weder ein Computer noch irgendein anderes Instrument je so erzeugen kann.

Denn das gewaltige Phänomen der menschlichen Stimme ist absolut einzigartig und daher bereits seit einiger Zeit ein rasch wachsendes Forschungsobjekt, wie man aus dem Munde des anerkannten Stimmforschers Matthias Echternach von der Universität Freiburg im Breisgau hört, der für seine nach außen hin nicht selten komisch wirkenden Experimente beispielsweise die weltweite „Hochtoninstanz“ Georgia Brown gewinnen konnte.

Die brasilianische Ausnahmesängerin und Performerin erreicht bei ihren Auftritten eine partielle Stimmfrequenz von gigantischen 4000 bis 5000 Hertz. „Normale“ männliche Sprechstimmen liegen dagegen zum Beispiel nur bei einer Frequenz von 1500 bis 2000 Hertz. Und so überrascht es dann sogar den ausgebufften Forscher, der selbst von Kindesbeinen an in Chören singt, dass seine Messgeräte angesichts dieser extremen Klänge irgendwann versagen und Browns Gesang schlichtweg nicht mehr digital aufzeichnen können.

Szenen, die zum (Mit-)Singen animieren

In einer gleichfalls ebenso bizarr wie humorvoll arrangierten Szene lässt der deutsche Wissenschaftler einmal eine Schweizerin mit Jodeldiplom im Computertomografen singen, was beim Zuschauer regelrecht positive Vibes auslöst und ihn rasch selbst zum (Mit-)Singen animiert. Trotz aller Versuche, die er inzwischen in regem Austausch mit vielen globalen Stimmexperten gestartet hat, kann er dem einzigartigen Klang der menschlichen Stimme wissenschaftlich betrachtet weiterhin nicht alle Erkenntnisse abgewinnen: Zum Glück. „Wollen wir diese Magie entschlüsseln? Wollen wir wissen, warum die Stimme so toll wirkt? Oder wollen wir die Stimme nicht lieber als Mysterium belassen?“, fragt er am Ende des Films rhetorisch.

Natürlich kommen in Bernard Webers selbst glücklich machendem Dokumentarfilm, der federleicht und wunderbar assoziativ montiert ist, auch einige Profimusiker zu Wort wie der mexikanische Startenor Ramón Vargas, der seit langem in der ersten Opernhäusern dieser Welt singt und trotzdem bereits ernsthafte Gesangsdepressionen hatte und auch öffentlich darüber sprach: Ein Novum in der stetig auf Hochglanz und Perfektion getrimmten Klassik-Szene. Erst durch den persönlichen Fund einer alten Gesangsaufnahme auf Kassette, die ihn als jungen Tenor zeigte und so quasi von Neuem „hörbar“ machte, hat er schließlich danach wieder die Lust am Singen gefunden. Heute steht er wieder ganz oben in der Gunst des Publikums wie der internationalen Musikkritik.

Auch einige kurze Stationen aus dem Leben der Luzerner Sopranistin Regula Mühlemann machen exzellent erfahrbar, welche enormen physischen wie psychischen Anstrengungen hinter einer sogenannten „großen Stimme“ innerhalb der Welt der klassischen Musik stecken. Mit großer dokumentarischer Nähe, frei von jeglichem Voyeurismus oder billigen „celebrity“-Momenten, sucht die Sängerin bei einem Galakonzert, einer CD-Aufnahme oder bei der künstlerisch-lautmalerischen Vertonung eines Filmprojekts stetig nach dem schwebenden Kang ihrer Stimme, was durchaus Gänsehautmomente auslöst und die gesamte Magie musikalischer Klänge in Dokumentarfilmeinstellungen übersetzt. Ihr langfristiges Ziel sei es schließlich, „den perfekten 360-Grad-Rundum-Klang“ zu erzeugen.

Auf der Suche nach kathartischen Tönen

Einen wiederum gänzlich anderen Zugang zur menschlichen Stimme hat die Schweizer Stimmtherapeutin Miriam Helle, die regelmäßig sowohl mit Kindern wie auch Erwachsenen oder Senioren arbeitet. Ihr geht es einzig darum, dass ihr Gegenüber möglichst ungewohnte und im besten Falle regelrecht kathartische Töne von sich gibt, sich in der Stimme entdeckt und wortwörtlich ausdrückt, wofür Bernard Weber eine packende Bildübersetzung gefunden hat, die bewusst Extremsituationen wie Schreien oder Stöhnen beinhaltet und durchgängig elektrisierend umgesetzt ist.

„Der Klang der Stimme“ reißt den Zuschauer in seinen stärksten Miniaturszenen mitunter aus dem Kinosessel und berührt im selben Moment durch seine dokumentarische Genauigkeit im Stil und seine dramaturgisch frische Herangehensweise ungemein. Vorzüglich fotografiert und elegant in Szene gesetzt, gehört diese typische „Swiss Films“-Produktion, die bereits auf den Solothurner Filmtagen prämiert wurde, schon jetzt zu den klassischen Publikumsfilmen im aktuellen Dokumentarfilm-Jahrgang. Denn er berührt und veranschaulicht gleichermaßen – und wahrt doch genügend Geheimnisse, analog zur menschlichen Stimme. Das passt einfach, macht ungemein neugierig und klingt auf und abseits der Leinwand extrem gut: Hier ist wirklich alles im Einklang.

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