Familienleben (2018)

Dokumentarfilm | Deutschland 2018 | 96 Minuten

Regie: Rosa Hannah Ziegler

Dokumentarfilm über eine Frau, ihre beiden Töchter und ihren Ex-Lover, die isoliert auf einem heruntergekommenen Hof in Sachsen-Anhalt hausen und vom Leben gezeichnet sind. Die sich über ein Jahr erstreckenden Beobachtungen entwickeln ein außerordentliches Gespür für Menschen, die geografisch, sozial und kulturell aus der bürgerlichen Welt herausgefallen sind. Der beklemmende, von langen, intimen Einstellungen geprägte Film zeigt die Protagonisten in ihren Schwächen, ohne sie bloßzustellen, schlägt aber auch vor ihren Macken und Fehler nicht die Augen nieder. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Wendländische Filmkooperative/NDR
Regie
Rosa Hannah Ziegler
Buch
Rosa Hannah Ziegler
Kamera
Matteo Cocco
Musik
August Braatz
Schnitt
Rosa Hannah Ziegler · Gerhard Ziegler
Länge
96 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Dokumentarfilm über eine Frau, ihre beiden Töchter und vier Hunde, die mit ihrem Ex-Lover auf einem heruntergekommenen Hof in Sachsen-Anhalt lebt.

Diskussion

Der Fernseher läuft immer, meistens tonlos. Auf dem Tisch stehen Utensilien zum Zigarettendrehen, oft auch eine 1,5-Liter-Flasche Cola. Meistens sind mehr Hunde im Raum als Menschen. Diese Bilder aus dem Wohnzimmer eines aufgelassenen Bauernhofs im ländlichen Sachsen-Anhalt sind ein wiederkehrendes Element in dem Dokumentarfilm „Familienleben“ von Rosa Hannah Ziegler, die sich nachhaltig einprägen. Auf dem Hof leben Alfred und Biggi, die vier Jahre lang ein Paar waren und nun immer noch unter einem Dach wohnen – aus finanzieller Not. Zwei Töchter von Biggi und sehr viele Tiere leben ebenfalls dort.

Alfred und Biggi schreien sich oft an. Wenn ihn die „verdammte Lüchnerin“, wie er sie eingangs nennt, in Rage gebracht hat, geht Alfred „in die Halle rein“. Die „Halle“ diente früher wohl als Stall; heute wirkt das Gebäude wie eine Ruine und liegt voller Gerümpel. Alfred lebt in dieser archaischen Umgebung beim Holzhacken und Kaputthauen anderer Dinge seine Aggressionen aus. Später wird deutlich, dass er sich nicht nur auf diese Weise abreagiert. „Ich hau’ nun mal keine Frau, aber sie ist keine Frau, sie will behandelt werden wie ein Mann“, sagt er über seine Ex-Partnerin. Deshalb müsse sie auch „einstecken“ können „wie ein Mann“. Es ließen sich über das Verhältnis mit Biggi aber „auch gute Sachen“ sagen: „Wenn sie nichts mehr zu rauchen hat, helfe ich ihr aus, auch umgekehrt.“

Die Probleme der Erwachsenen greifen auf die Jüngeren über

Biggi saß eine Zeit lang wegen Ladendiebstahls im Gefängnis und wurde von der Familie ihrer leiblichen Mutter verstoßen. Alfred „kennt sich mit der ganzen Drogenscheiße aus“, wie er abends im Wohnzimmer preisgibt, als mal wieder der Fernseher tonlos läuft. Die Probleme, die die beiden Erwachsenen in jüngeren Jahren hatten, drohen nun in ähnlicher Form auf die nächste Generation überzugreifen, auf Biggis zwei Töchter. Die 17-jährige Denise leidet unter Angstzuständen und geht nicht zur Schule, die 14-jährige Saskia hat phasenweise im Heim gelebt. Zunächst ist die Ältere von beiden mit einem Jungen aus dem Dorf zusammen, der Drogenprobleme hat, dann verliebt sich die Jüngere in ihn.

Dieser Plot-Twist, wie man bei einem fiktionalen Film sagen würde, zeigt auch, wie isoliert die vier Menschen leben, deren Alltag der Film ein Jahr lang folgt. Entsprechend reduziert ist das Setting. Es gibt fast keine Bilder von außerhalb des Hofs. Einmal sieht man Saskia rauchend eine Straße im Dorf entlanggehen, einmal steht sie rauchend an einer Haltestelle.

Die Filmemacherin gibt allen vier Personen Raum, ihre Sicht der Dinge darzustellen, und ihr gelingt es sogar, Empathie für Alfred zu wecken, obwohl der Biggi einmal bewusstlos geprügelt hat, wie die ältere Tochter erzählt („Ich weiß nicht, wie oft er zugeschlagen hat.“). Wenn man sieht, wie Alfred auf seinem Computer „Love Hurts“ von Nazareth oder „Words (Don’t Come Easy)“ von F.R. David hört und dabei mitsingt oder mit dem Kopf wippt, bringt das auf sehr beeindruckende Weise dessen existenzielle Verlorenheit zum Ausdruck.

Porträts vom Rande der Welt

Ziegler porträtiert Menschen, die gewissermaßen am Ende der Welt leben, geografisch, sozial, kulturell. Jedenfalls sind sie viel weiter am Rand der Gesellschaft als jene, die heute gern mit dem Adjektiv „abgehängt“ belegt werden. Rosa Hannah Ziegler beweist dabei ein außerordentliches Gespür für die Lebenswelt und die Geschichte der Protagonisten: Sie zeigt sie mit all ihren Schwächen und Problemen, ohne sie bloßzustellen oder die unverzeihlichen Dinge, die sie tun oder getan haben, in einem milden Licht erscheinen zu lassen.

Ziegler besitzt zudem die Gabe, Menschen dazu zu bringen, vor der Kamera sehr persönliche Dinge auszusprechen, Dinge, die sie so vermutlich noch nie formuliert haben. Das zeichnete auch ihre 2018 mit dem Grimme-Preis prämierte Dokumentation „Du warst mein Leben“ aus.

„Familienleben“ ist ein intimer, von langen Einstellungen geprägter Film (Bildgestaltung: Matteo Cocco), der oft Beklemmungen auslöst. Zumindest der „Epilog“ weckt eine leise Hoffnung: Ziegler berichtet hier kurz, dass Biggi und ihre beiden Töchter nach langem Suchen eine neue Bleibe gefunden haben.

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