Das Ei ist eine geschissene Gottesgabe

Dokumentarfilm | Deutschland 1993 | 92 Minuten

Regie: Dagmar Wagner

Ein atmosphärisch dichter und authentischer, trotz einiger Ungereimtheiten im Konzept eindrucksvoller Dokumentarfilm über das Leben der oberbayerischen Bäuerin Sophie Geisberger. In langen Interview-Sequenzen versucht der Film, das Familien- und Hofschicksal der Bewohner des Sprengenödhofes östlich des Starnberger Sees zu porträtieren, und enthüllt dabei eine frühe Emanzipationsgeschichte. Seine ruhigen, geduldigen Bilder halten ein Leben auf dem Bauernhof fest, das in der Gegenwart kaum mehr anzutreffen ist und trotz der Schwere des Lebens eine Art Gelassenheit kennt. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
1993
Produktionsfirma
Kick-Film/Dieter Horres Film/BR
Regie
Dagmar Wagner
Buch
Dagmar Wagner
Kamera
Igor Luther
Musik
Heinz Grobmeier · Thomas Hahner
Schnitt
Clara Fabry
Länge
92 Minuten
Kinostart
-
Fsk
ab 0; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm
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Diskussion
Derzeit macht ein Dokumentarfilm von sich reden, der seit Wochen Zuschauer aller Altersschichten anzieht. Und das, obgleich im Mittelpunkt das zwar nicht alltägliche, aber durchaus landläufige Schicksal einer 78jährigen Bäuerin steht, die zusammen mit zwei taubstummen Helfern den heruntergekommenen "Sprengenödhof" östlich des Starnberger Sees bewirtschaftet: Sophie Geisberger, eine hagere, gottesfürchtige Emanzipierte wider Willen, deren Leben auch in der "guten alten Zeit" nachhaltig von der Zeitgeschichte beeinflußt wurde. Der Vater brachte aus dem Ersten Weltkrieg Tbc mit nach Hause, der zuerst er und dann auch Sophies Bruder zum Opfer fiel. Zusammen mit ihrer Mutter biß sich das Schulmädchen durch, machte aus dem Hof - der Mißgunst der Nachbarn zum Trotz - ein ansehnliches Gut, mit Knechten, Pferden, einer Pension und einem florierenden Wirtshaus. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg erlaubte sich die 32jährige gestandene Großbäuerin die Ehe mit einem Baumeister.

Doch aus dem erhofften Glück wurde nichts. Zwar entstammten der Ehe zwei Söhne und vergrößerte sich der Hof anfangs beträchtlich. Doch die Mutter war dem "Angeheirateten" nicht hold, das Verhältnis zu seinem ältesten Sohn Sepp mißriet zusehends, und die gezügelten Sinnenfreuden seiner Frau ließen den Bauern anderswo fündig werden. Die familiäre Zerrüttung steigerte sich Ende der 70er Jahre, als die Polizei dem des Ältesten auf die Spur kam, der in industrieller Manier Schnaps gebrannt hatte, um dem Gängelband des Vaters zu entkommen. Steuernachzahlungen und hohe Strafen zwangen zum teilweisen Verkauf der Ländereien, das Wirtshaus wurde vermietet, die Pension in ein Asylantenheim umgebaut und der Vater zum Teufel gejagt. Zurück blieben Sophie und Sepp, in dessen gescheiterter Ehe mit der "Städterin" Isi sich Ähnliches wiederholte. Ein bayerisches Drama, zu alltäglich, um Schlagzeilen zu machen, zu typisch, um als Ausnahme durchzugehen.

Dies alles erzählt der Film von Dagmar Wagner in unprätentiösen, geduldigen Interviews der Hauptfiguren. Mit ruhiger, manchmal fast kontemplativer Kamera folgt er dem Tagesablauf Sophie Geisbergers und taucht ein in die bäuerliche Welt, in der seit den 60er Jahren die Zeit stehengeblieben scheint. Keine Melkmaschine surrt, kein Gerätepark erleichtert die Arbeit, das Holz wird mit der Hand gespalten, der Entenbraten in der Bratraine auf den Tisch gestellt, und frühmorgens fährt sich Sophie mit einem Holzkamm durchs Haar, ehe sie es nach oben steckt - sorgfältige Detailbeobachtungen einer vergangenen Zeit, die hier ein letztes Refugium genießt. Die langsamen Bewegungen der Kamera gleichen sich über weite Strecken dem Lebensrhythmus des Bauernhofes und seiner vielen neuen Bewohner an. Denn Zeit haben die rund 30 Asylsuchenden, Obdachlosen und der Rentner Kurt, der hier seinen Lebensabend verbringt, mehr als genug. Dem Film gelingt so eine atmosphärisch dichte Schilderung einer Enklave, in die nur am Wochenende moderne Zeiten einbrechen, wenn die Münchner Schickeria im verpachteten Wirtshaus der Folklore frönt.

Aber trotz aller Authentizität bleibt Wagners filmische Annäherung ihrer Hauptperson gegenüber seltsam äußerlich. Es gelingt ihr zwar einige Male, die alte Bäuerin so ins Gespräch zu versetzen, daß die teilnehmende Kamera vergessen scheint und Sophie Geisberger mit dem Zuschauer intime Zwiesprache hält. Doch scheut die Regisseurin vor dieser scheinbaren Parteilichkeit immer wieder zurück, indem sie den Aussagen der Bäuerin die Gegenreden des Ehemannes entgegensetzt, um einer vermeintlichen "Objektivität" willen, wie sie zu Protokoll gab. Es nimmt nicht wunder, daß Sophie Geisberger dies nach Fertigstellung des Films bitter aufstieß.

Besonders greifbar wird dieses Changieren des Films zwischen vertrautem Blick und sezierender Distanz beim Thema Religion. Immer wieder werden religiöse Sinnsprüche an den Mauerwänden des Bauernhofes ins Bild gehoben, Votivtafeln und Herz-Jesu-Figuren gezeigt oder der Bäuerin bei ihrer geistlichen Bettlektüre zugeschaut. Wenngleich dies ganz offenkundig Intarsien einer vergangenen Zeit sind, bilden sie für die Bäuerin des Sprengenödhofes nach wie vor wichtige Orientierungspunkte. Dagmar Wagner dagegen nutzt sie pointiert als Irritationssignale: während des Gottesdienstbesuches spricht der Priester von der Berufung des Menschen zum Heil (versus der Resignation Sophies), empfehlen sich die Gläubigen dem Schutz der Jungfrau Maria oder taucht die Schlußeinstellung die betende Geisbergerin in ein kitschig rosarotes Licht, während die Kamera langsam zurückfährt und die Frau ihrer Einsamkeit überläßt. (Hingegen wird das einmal kurz angeschnittene zentrale Thema Sexualität und kirchliche Bräuche leider nicht weiter verfolgt.) Trotz solcher Ungereimtheiten und Ambivalenzen ist "Das Ei ist eine geschissene Gottesgabe" (Zitat Geisberger: wie alle ihre anderen Aussagen in original oberbayerischem Dialekt, was den bundesweiten Verleih erschweren wird) das sehenswerte Porträt einer untergehenden Welt; ein beachtenswertes Dokument der Ungleichzeitigkeit innerhalb der deutschen Gesellschaft.
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