Drama | Ägypten/Frankreich 2016 | 92 Minuten

Regie: Sherif El Bendary

Surrealer Trip durch Ägypten, der zwei außergewöhnliche Typen mit Hang zum Okkulten auf einer Mission begleitet, bei der sie ihre Neurosen verlieren sollen. Der eine hält eine Ziege für die Inkarnation seiner verstorbenen Freundin, der andere wird von schmerzhaft schrillen Ohrgeräuschen geplagt. Das Herz der zwischen Buddy-Komödie, Selbstfindungstrip und Road Movie schwankenden Pilgerreise schlägt für Missverstandene und Außenseiter, wobei die Inszenierung das Plädoyer für verquere Perspektiven durchaus auch etwas mehr für sich in Anspruch hätte nehmen können. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
ALI MIZAH WA IBRAHIM
Produktionsland
Ägypten/Frankreich
Produktionsjahr
2016
Produktionsfirma
Arizona Films/MAD Solutions/MVD Distribution/Transit Films
Regie
Sherif El Bendary
Buch
Ahmed Amer
Kamera
Amr Farouk
Musik
Ahmed El Sawy
Schnitt
Emad Maher
Darsteller
Ali Subhi (Ali) · Ahmad Magdy (Ibrahim) · Nahed El Sebaï (Sabah) · Salwa Mohamed Ali (Nousa)
Länge
92 Minuten
Kinostart
28.03.2019
Fsk
ab 6
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama | Komödie
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Diskussion

Surrealer Trip durch Ägypten, der zwei außergewöhnliche Typen mit Hang zum Okkulten, die ihre Neurosen verlieren wollen, auf einer Mission begleitet.

Wer sieht und fühlt, was allen anderen verborgen bleibt, ist entweder visionär, religiös oder wahnsinnig. Das Urteil über die Hauptfiguren von Sherif El Bendarys „Die Ziege“ haben Freunde und Familie längst gefällt, und das nicht unbedingt zu ihren Gunsten. Ali (Ali Subhi) liebt Nada, doch Nada ist eine Ziege. Er sieht in ihr die Reinkarnation seiner verstorbenen Freundin. Sein Umfeld reagiert mit der erwartbaren Mischung aus Spott und Sorge.

Der Musikproduzent Ibrahim (Ahmad Magdy), Sohn eines berühmten Lautenspielers, wird von schmerzhaft schrillen Geräuschen gepeinigt, die sonst niemand hören kann. Er ist nicht der erste, der von diesem Familienfluch heimgesucht wird; seine Mutter hat sich aus Verzweiflung das Leben, sein Großvater das Gehör genommen.

Ali und Ibrahim werden von ihren Nächsten zum gleichen Geistheiler geschleppt, beide erhalten denselben Auftrag: Sie sollen jeweils einen magischen Stein in den Nil, ins Mittelmeer und ins Rote Meer werfen.

Ohne Augen für die Straße

Im rechten Licht betrachtet ist „Die Ziege“ ein Road Movie, allerdings eines ohne Augen für die Straße. Der Film ist selten in Bewegung. Zwar steigen die Protagonisten gelegentlich in Züge oder auf Kamele, fahren mit dem Auto oder gehen ein Stück zu Fuß. Doch ein Gefühl für die Welt entsteht dadurch nicht; der Schnitt verwandelt noch die längste Odyssee in Teleportation. Die Handlung spielt in Ägypten, doch die spezifische Geografie und Politik des Landes weichen eher einer Fantasiewelt. Die Hintergründe verschwinden in Unschärfe. Nicht der Weg ist das Ziel, sondern eben das jeweilige Ziel.

Die Figuren sind nie im Übergang befindlich, sondern hängen meist schlicht herum: am Strand und in Geschäften, auf Flachdächern und an Straßenecken. Kino in Gestalt von Urlaub, gemütlich, ohne Dringlichkeit oder Hektik. Selbst wenn Ali und sein Freund Nousa (Salwa Mohamed Ali) die Prostituierte Sabah (Nahed El Sebaï) mit selbstgebauten Molotow-Cocktails vor einem Angriff retten, ist das kein Grund, auch nur einen Hauch von Dramatik aufkommen zu lassen. In einigen Szenen wird die langsam wachsende Beziehung zwischen Nousa und Sabah erzählt. Dieser etwas lust- und nutzlose Nebenstrang soll für Abwechslung sorgen, was aber nur bedingt gelingt.

Die Reisen von Ali und Ibrahim sind innerlich. Zwei Fremde werden durch die Launen höherer Mächte – die Drehbuchautoren – zusammengebracht. Nach der Logik der Buddy-Komödie ist das Gegenüber zunächst unerträglich; auch Ibrahim spottet wie alle anderen über Alis Zoophilie. Gespräche und gemeinsam überwundene Hindernisse führen die beiden dann aber doch zueinander. Sie lernt Eigenarten und Schrullen zu akzeptieren, und auch der Freundschaft steht dann nichts mehr im Weg.

Hippietum trifft auf Alltagsmystik

Ein klein wenig werden sie dabei auch erwachsen und emanzipieren sich von ihren Familien, die sie nicht für voll nehmen. Beim Versuch, sich selbst zu entkommen, entdecken beide den Nutzen ihrer Eigenheiten. Vermeintliche Schwächen werden als Potenzial erkannt und nutzbar gemacht. Auch in „Die Ziege“ wird das immergleiche Filmritual des Selbstfindungstrips durchexerziert, westliches Hippietum trifft hier auf ägyptische Alltagsmystik.

Eine areligiöse, aber dafür spirituelle Pilgerreise. Egal, wo man ist: Finden muss man sich immer. Das gleicht sehr den Tipps, die der Filmwissenschaftler David Bordwell in seinem Buch „The Way Hollywood Tells It“ als Fortführung der New-Age-Bewegungen der 1950er- und 1960er-Jahre beschrieben hat. Eine psychologische Blockade wird überwunden, Selbsterkenntnis macht zum besseren Menschen. „Die Ziege“ ist ein typisches Produkt des modernen Festivalkinos: tradierte Erzählungen und Formen mit einem Hauch von Exotik und kleinen surrealen Schnörkeln. Aufregend ist das nicht.

Das seit Jahren als Arthouse-Standard akzeptierte Herumgewackel mit der Handkamera behauptet eine Nähe und Unmittelbarkeit, die nie erreicht wird. Die Figuren sind eher Clowns als Menschen, an denen man Anteil nehmen würde. Mit ihnen die Zeit totzuschlagen, besitzt eine behagliche Banalität, aber auch lange Dialoge ergeben keine wirkliche Charakterstudie. Das Interesse reduziert sich auf eine Frage: Ist da tatsächlich etwas Übernatürliches am Werk oder sind die Figuren einfach nur verrückt? Ist die Ziege nur eine Ziege, sind die Phantomgeräusche nur Ausdruck eines psychologischen Problems? Die Entscheidung für die ruckelige Handkamera könnte durch den quasi-dokumentarischen Charakter erklärt werden, den man den Bildern oft zuschreibt; den Zuschauern wird ein naturalistischer Raum eröffnet, als sichererem Grund, von dem aus die Phänomene erforscht werden können.

Bilder für das Innenleben

Wenn Ibrahim von den Klängen heimgesucht wird, die stark an Rückkopplungen von Mikros erinnern, dann bedient sich Sherif El Bendary einer Bildsprache, die mit Wahnsinn und Paranoia konnotiert ist: schnelle Schnitte, Unschärfen, extreme Nahaufnahmen, visuelle Verzerrungen. Ibrahims Versuch, das Geräusch aufzuzeichnen, gehört zu den interessanteren Bildern, die der Film für psychische Krankheiten findet. Wie kann man anderen vermitteln, was vielleicht nur im eigenen Kopf passiert? Mit dem klassischen Empirismus lässt sich diesem Problem nicht beikommen. In gewisser Weise ist Ibrahim daher auch ein verzweifelter Künstler, der die im Inneren verborgenen Schmerzen und Traumata mit seiner Umwelt teilen möchte. Wo ihm das gelingt, wandelt sich der Film. Es sind Momente des Triumphs, die fast an Comic-Filme erinnern, in denen die Helden ihre besonderen Fähigkeiten endlich einsetzen können.

Alis Liebe zur Ziege erscheint zuerst als Möglichkeit, die Wirklichkeit zu leugnen. Vor dem Schmerz über Nadas Tod flüchtet er sich in eine Fantasiewelt. Auch mit diesem Bild bricht der Film. Das Alltägliche wird mit Magie gefüllt – auf eine Art, die man durchaus als kitschig empfinden kann. Unsympathisch macht es das Road Movie nicht. Der Film gefällt sich auf der Seite der Missverstandenen und Außenseiter. Verquere Perspektiven werden geradezu bejaht. Deshalb ist es auch etwas ärgerlich, dass der Film selbst so konventionell ist. „Die Ziege“ ist mit sich selbst nicht ganz im Reinen. Wer weiß – vielleicht würde ja eine Reise helfen.

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