Der Prozess (2018)

Dokumentarfilm | Niederlande 2018 | 123 Minuten

Regie: Sergei Loznitsa

Vom 25. November bis 7. Dezember 1930 fand in Moskau ein Schauprozess gegen eine Gruppe von Ingenieuren und Ökonomen statt, denen vorgeworfen wurde, mit dem kapitalistischen Ausland gegen die Interessen der Sowjetunion intrigiert zu haben. Trotz fehlender Beweise wurden die Angeklagten nach erzwungenen Geständnissen zum Tode verurteilt. Der ausschließlich mit Archivmaterial arbeitende Dokumentarfilm rekonstruiert die Vorgänge wie eine Theateraufführung. Unkommentiert verdichtet die Montage die sorgfältig recherchierte Materie zu einem Kammerspiel der rhetorischen und inszenatorischen Perfidie und macht wie unter einem Brennglas das Entstehen eines mörderischen Systems nachvollziehbar. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik

Filmdaten

Originaltitel
PROCESS
Produktionsland
Niederlande
Produktionsjahr
2018
Produktionsfirma
Atoms & Void/Wild at Art
Regie
Sergei Loznitsa
Buch
Sergei Loznitsa
Schnitt
Danielius Kokanauskis
Länge
123 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Dokumentarfilm

Dokumentarische Rekonstruktion eines Schauprozesses im Winter 1930 in Moskau, der ausschließlich auf historischen Originalaufnahmen beruht und die rhetorische und inszenatorische Perfidie sichtbar macht, mit der die Machthaber das Verfahren für ihre Zwecke instrumentalisierten.

Diskussion

Die Filme von Sergei Loznitsa sind generell Lektionen in Geschichte. Der neueste Film ist allerdings eine besondere. Eine, die ohne jeden Fingerzeig und ohne Moralkeule auskommt, ohne Kommentar, ohne Erklärungen oder besondere Regieeingriffe. Denn das Skript zum Film wurde von anderen geschrieben, von anderen Mächten und anonymen Verfechtern der Verschwörungstheorie.

„Der Prozess“ ist ein Found-Footage-Film über einem Schauprozess aus der Stalin-Zeit: dem gegen die so genannte „Industrie-Partei“, der vom 25. November und dem 7. Dezember 1930 stattfand, inmitten jenes historischen Wendepunkts, den das Ende des erste Fünfjahresplan in der Geschichte der Sowjetunion darstellte. „Tod durch Erschießen“, wurde gefordert. Die Angeklagten bekannten sich alle schuldig. Zu Verbrechen, die sie nicht begangen hatten.

Für die Kamera inszeniert

Schauprozesse als inszenierte Verurteilungsspektakel gegen politisch Unduldsame hatte es vor der „Industrie-Partei-Causa“ schon einige gegeben, auch solche, bei denen eine Filmkamera dabei war; etwa Dziga Vertovs Berichterstattung über den „Prozess gegen die Sozialrevolutionäre“ im Juni-August 1922, die sowohl in die frühen Ausgaben seiner „Kinopravda“ eingegangen ist, als auch zu einem eigenständigen Kompilationsfilm „Der Prozess gegen die (rechten) SR-ler“ führte.

Zentral war jedoch der „Schachty-Prozess“, der von Mai bis Juli 1928 stattfand und mit über 50 Angeklagten (und mehrheitlich Verurteilten) den ersten großen Paukenschlag gegen die parteilose Intelligenz darstellte: als Schauspiel für die Massen, gleichzeitig aber auch als Indizienprozess zur Wahrung des juridischen Scheins organisiert. Es hagelte darin Anklagen gegen die wichtigsten Techniker und Ingenieure des Landes, die als „Kontrarevolutionäre“ und „Kollaborateure mit den Feinden aus dem Ausland“ diffamiert wurden.

Ausgangspunkt waren angebliche Sabotageakte in der Schachty-Region des Donbass. Stalin ermahnte Volk, Partei und Gewerkschaften zu mehr „revolutionärer Wachsamkeit“ angesichts der Gefahr, die von den „Schädlingen“ ausginge. Elf Angeklagte im Schachty-Prozess wurden zum Tode verurteilt, fünf hingerichtet, Tausende in der Folge verhaftet und deportiert. Auch von diesem Verfahrensfuror gibt es Filmdokumente; nachzulesen ist das in der Studie „The Enemy on Trial. Early Soviet Courts on Stage and Screen“ (2000) von Julie Cassiday.

„Tod durch Erschießen“

Für den „Industrie-Partei-Prozess“, auf den sich Loznitsa konzentriert, sind zwei Faktoren ausschlaggebend. Einmal die Tatsache, dass die Show hier perfekt klappt und das politisch-anthropologisch-soziale Kalkül aufgeht: Keiner der Angeklagten bestreitet seine Schuld, ausnahmslos alle legen Geständnisse ab, zeigen Einsicht und inständige Reue. Das ist verheerend mitanzusehen und mitanzuhören.

Zum Zwecke der „sozialen Sicherheit“ mussten, darüber waren sich Tausende im Saal und mit ihnen die draußen auf den Straßen marschierenden Bannerträger einig, „die höchsten Maßnahmen“ ergriffen werden: „Tod durch Erschießen“. So lautete denn auch das Urteil, nach dessen Verkündung die Menge bei tosendem Applaus in Freudentränen ausbricht.

Aber auch aus einem anderen Grund ist „Der Prozess“ wichtig: der Film gibt Zeugnis von der prekären Liaison zwischen dem Kino und der Macht. Loznitsas Film verwertet Archivmaterial, das seine Rechercheure im Krasnogorsker RGAKFD bei Moskau fanden; er selbst bereist Russland nicht mehr („Soll ich mich in eine Zelle neben Oleg Sentsow setzen lassen?“).

„Der Prozess“ basiert im Kern auf einem 42-minütigen Dokumentarfilm der „Sojuzkinochronika“, der kurz nach Neujahr 1931 in die Kinos kam: Jakov Poselskijs „13 Tage (Die Akte ‚Industrie-Partei‘)“. Dieser Film wird zur gespenstischen Analyse jenes filmischen Apparats, der zwischen Aufzeichnung und Auslassung am fatalen Geschehen Teil hatte, das es jenseits des Spektakels nicht gegeben hätte. Nach Ansicht des russische Philosoph Michail Jampolskij fand der Industrie-Partei-Prozess nur für den Film statt.

Lehrstunden über den Totalitarismus

Loznitsa re-inszeniert, insbesondere auf der Tonebene, ein auf Grundlage der überlieferten Prozessprotokolle minutiös rekonstruiertes Kammerspiel der rhetorischen und inszenatorischen Perfidie. Brutal ausführlich entsteht das Dokument einer allumfassenden juristisch-politischen Fabrikation. Denn eine „Industrie-Partei“ hat es nie gegeben.

Es sind Lehrstunden über den Totalitarismus, die Loznitsa jenen beschert, die sich einer freiwilligen Folter unterziehen, indem sie sich der Dramaturgie eines von oben losgetretenen und von unten mitgetragenen Politterrors hingeben. Anders als im Jahr 1930 bieten die 125 Filmminuten heute nur noch Schauder, aber keine Katharsis. Man wird die Bilder nicht so schnell vergessen und vielleicht sogar als Mahnung verstehen lernen.

Jedenfalls sollte dieser Film, ein an der Oberfläche bescheiden-trocken anmutendes audiovisuelles Archiv-Dokument der Mikrogeschichte eines Prozesses, der die Blaupause für die Großen Säuberungswellen abgab, die fünf Jahre später die Sowjetunion überzog, auf alle Lehrpläne gesetzt werden. Denn die formal schlichte, auf zwei Stunden verdichtete Rekonstruktion dessen, was sich hinter den Säulenportalen des „Hauses der Gewerkschaften“ in Moskau in nicht einmal zwei Wochen zutrug, wird zur Analyse der Mechanismen eines Autoritarismus, der das entscheidende Verbindungsmerkmal zwischen Stalinismus und Faschismus damals und in den illiberalen Demokratien der Gegenwart heute darstellt.

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