Ein besonderes Leben

Serie | USA 2019 | Minuten

Regie: Anna Dokoza

Ein homosexueller Mann mit einer zerebralen Kinderlähmung tritt ein Praktikum bei einem Online-Magazin an und arbeitet daran, sich einen Platz zu erkämpfen und wahrgenommen zu werden, beruflich wie privat. Dabei gibt es viele Reibungsflächen, nicht zuletzt mit seiner Mutter, aber auch mit den Tücken des Jobs und der Liebe. Staffel 1 fokussiert ganz auf das Sich-Freischwimmen der Hauptfigur; Staffel 2 weitet den Fokus zunehmend auch auf andere Figuren. In pointiert-knappen Sitcom-Folgen erkundet die autobiografische Serie selbstironisch-lakonisch das Leben mit einer körperlichen Behinderung und die Reaktionen der Außenwelt und beleuchtet realitätsnah die vielschichtigen Beziehungen der Figuren. - Sehenswert ab 16.
Zur Filmkritik Im Kino sehen

Filmdaten

Originaltitel
SPECIAL
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Campfire/Stage 13/That's Wonderful
Regie
Anna Dokoza · Craig Johnson
Buch
Ryan O'Connell · Mason Fink · Liz Elverenli · Leila Cohan · Keshni Kashyap
Kamera
Philip Roy
Musik
Joshua Moshier
Schnitt
Thomas Calderon
Darsteller
Ryan O'Connell (Ryan) · Jessica Hecht (Karen) · Punam Patel (Kim) · Marla Mindelle (Olivia) · Augustus Prew (Carey)
Länge
Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Serie | Tragikomödie
Externe Links
IMDb | TMDB

Eine autobiografisch inspirierte Serie um einen Protagonisten mit zerebraler Kinderlähmung, der sich beruflich wie privat freischwimmt. Erfrischend selbstironisch-pointiert als Sitcom umgesetzt.

Diskussion

Ryan Hayes leidet unter einer milden Form von CP, genauer: Cerebralparese, einer zerebralen Kinderlähmung mit spastischen Symptomen. Das heißt, eigentlich hat er CP. Worunter er leidet, sind vor allem die Reaktionen seiner Mitmenschen. Die sammelte Ryan O’Connell, auf dessen Autobiografie die Serie beruht und der auch die Hauptrolle darin spielt, in der ersten Staffel von „Ein besonderes Leben“ in kurzen, tragikomischen Anekdoten auf wunderbar selbstironische Weise ein. Die viertelstündigen Episoden waren kurz genug, um keine Längen aufkommen zu lassen. Und der Spagat zwischen greller Karikatur und tiefgründigem Erzählen gelang, auch wenn nicht jeder Gag zündete. Die eigentliche Stärke der Serie liegt ohnehin eher in den Zwischentönen des Zwischenmenschlichen. Nach und nach entspinnt sich aus kuriosen Begebenheiten eine reizvolle, heiter-melancholische Geschichte um Selbstvertrauen, Identität, Familie, Freundschaft und Liebe, die in der zweiten Staffel der Netflix-Produktion, die seit Mai 2021 zu sehen ist, weitererzählt wird.

Ein Sich-Freischwimmen mit diversen Tücken

In der ersten Staffel findet Ryan, nachdem er sein Coming-out als Schwuler bereits hinter sich hat, endlich auch zu einem selbstbewussten Umgang mit seiner CP. Er nimmt eine Praktikumsstelle bei einer nach außen betont woken, intern gnadenlos ausbeuterisch geführten Webseite an, hat das erste Mal Sex, zieht von zu Hause aus und räumt schließlich mit dem für ihn lange Zeit allzu bequemen Missverständnis auf, sein Hinken sei die Folge eines Autounfalls.

In der zweiten Staffel, deren Folgen mit einer Laufzeit von jeweils circa einer halben Stunde etwa doppelt so lang sind wie die der ersten Staffel, setzt sich dieser Entwicklungsprozess nun fort. Ryan verliebt sich nach einem vermeintlichen One-Night-Stand in den charmanten Tanner (Max Jenkins), der in einer offenen Beziehung lebt, aber Ryan stets nur dann treffen kann, wenn sein Partner nicht in der Stadt ist. Komplikationen sind da vorprogrammiert. Ryans CP scheint dagegen zwischen den beiden kaum eine Rolle zu spielen. Das ändert sich erst, als Ryan sich einer Selbsthilfegruppe anschließt und es Tanner bei einer Party dieser Gruppe sichtlich schwerfällt, sich angemessen zu verhalten. Die schleichende Entfremdung, die sich danach zwischen Ryan und Tanner ausbreitet, setzt das Team der insgesamt fünf Drehbuchautorinnen und Drehbuchautoren um Ryan O’Connell ebenso glaubwürdig wie behutsam, gleichsam mit feinem Pinselstrich in Szene.

Der Fokus weitet sich in der zweiten Staffel

Es ist durchaus bezeichnend, dass hinter der Kamera diesmal mehr kreative Köpfe an der Geschichte beteiligt waren. Stammten in der ersten Staffel alle acht Episoden aus O’Connells Feder, zeichnet er bei der zweiten Staffel nur bei drei Folgen für das Drehbuch verantwortlich. Auch bei der Regie findet nach den ersten vier Episoden, die wie die komplette erste Staffel von Anna Dokoza inszeniert wurden, ein Wechsel statt.

Es ist nun keineswegs so, dass das ins Auge spränge. Vielmehr knüpft die feinfühlige Inszenierung Craig Johnsons („The Skeleton Twins“) nahtlos an diejenige Dokozas an. Was aber auffällt, ist, dass sich der Fokus der Serie in der zweiten Staffel zunehmend von Ryan und dessen Behinderung löst. Ryans Mutter Karen (Jessica Hecht), deren Leben sich jahrelang nur um ihren Sohn und ihre demente Mutter drehte, und Ryans Kollegin und beste Freundin Kim (Punam Patel), die sich taffer und selbstbewusster gibt, als sie sich tatsächlich fühlt, stehen im Mittelpunkt zweier weiterer Erzählstränge. So entsteht ein sorgsam arrangiertes Handlungsgeflecht, das verdeutlicht, dass im Grunde jeder und jede „ein besonderes Leben“ führt.

Nahe an der Wirklichkeit

Bisweilen geschieht das mit schrillem und prallem Witz, etwa, wenn es beim Analverkehr zu peinlichen Zwischenfällen kommt, oder wenn Ryans narzisstische Chefin sich selbst ein Geburtstagsständchen trällert. Meist aber präsentiert sich der auch weiterhin sympathisch selbstironische Humor eine Spur leiser und nachdenklicher als noch in der ersten Staffel. Das ist das eigentlich Wunderbare und Besondere dieser großartigen Serie, dass sie es sich, jenseits der bewusst zu Karikaturen überzeichneten Nebenfiguren, traut, Widersprüche auszuhalten, ohne sie moralisch auflösen zu wollen. Selten kam eine Fernsehserie den subjektiv oszillierenden Beziehungswirklichkeiten so nah.

Das verdankt sie den einfühlsamen Schauspielern und Schauspielerinnen in den Hauptrollen, die, allen voran Jessica Hecht als Ryans Mutter, so agieren, als würden sie sich vielleicht nicht gerade selbst spielen, wie Ryan O’Connell als Ryan Hayes dies mehr oder weniger tut, aber sich doch zumindest aufrichtig mit ihren Rollen identifizieren. Und es liegt nicht zuletzt auch an den klug durchdachten Drehbüchern, insbesondere den herausragenden Dialogen, in denen gegensätzliche Standpunkte aufeinanderprallen, ohne dass einer oder eine dabei als Siegerin hervorgeht oder als Verlierer. Immer wieder entsteht vielmehr der Eindruck, dass beide aus ihrer Perspektive betrachtet Recht haben.

Die Kunst ist, dass die Auseinandersetzungen dadurch dennoch nicht beliebig wirken, sich keine wohlfeile Lösung aufdrängt, aber auch keine Verbitterung breitmacht. Stattdessen mag einen am Ende der zweiten und leider wohl bereits finalen Staffel das Gefühl beschleichen, nicht nur Ryan, Karen und Kim besser kennengelernt zu haben, sondern womöglich sogar selbst ein bisschen weiser geworden zu sein.

Kommentar verfassen

Kommentieren