Das Heim und die Welt

Drama | Indien 1984 | 140 Minuten

Regie: Satyajit Ray

Die Geschichte einer indischen Frau zwischen zwei Männern, die in das politische Geschehen von 1905 verwickelt sind, als die Engländer Bengalen in zwei getrennte Verwaltungsbezirke aufteilen wollen. Ihr Mann ist ein zurückhaltender Liberaler, der gegen gewaltsame Aktionen ist, aber die Emanzipation seiner Frau fördert; vorübergehend fühlt sie sich zu dessen revolutionären Freund hingezogen, bis sie dessen Schwächen erkennt. Eine Romanverfilmung klassischen Zuschnitts, die eine vielschichtige Reflexion bietet über Für und Wider einer liberalen, aber gewaltfreien Opposition und einer gewalttätigen nationalistischen Revolution sowie über die Stellung einer emanzipierten Inderin zwischen diesen Polen. (O.m.d.U.) - Sehenswert.
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Filmdaten

Originaltitel
GHARE-BAIRE
Produktionsland
Indien
Produktionsjahr
1984
Produktionsfirma
National Film Development Corporation of India
Regie
Satyajit Ray
Buch
Satyajit Ray
Kamera
Soumendu Roy
Musik
Satyajit Ray
Schnitt
Dulal Dutt
Darsteller
Soumitra Chatterjee (Sandip) · Victor Banerjee (Nikhilesch) · Swatilekha Chatterjee (Bimala) · Gopa Aich (Schwägerin) · Jennifer Kapoor (Miss Gilby)
Länge
140 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert.
Genre
Drama | Literaturverfilmung

Ein Spätwerk des indischen Filmemachers Satyajit Ray, das in reflektierter und abgründiger Meisterschaft vom Widerstand gegen den Kolonialismus im frühen 20. Jahrhundert in all seinen Widersprüchen erzählt.

Diskussion

„Tell me the tales that to me were so dear

Long, long ago, long, long ago

Sing me the songs I delighted to hear

Long, long ago, long ago“

So beginnt ein Lied des Komponisten Thomas Haynes Bayly aus dem Jahr 1833, das in Satyajit Rays „Das Heim und die Welt“ gesungen wird, früh im Film, von der Hauptfigur Bimala und ihrer Hauslehrerin Miss Gilby. Das nostalgische Begehren des Textes und auch der Melodie ist so unspezifisch gehalten, dass sie auch fernab von Baylys englischer Heimat und in einer komplett anderen historischen Situation aufgegriffen werden kann. Der Film spielt auf einem indischen Landgut in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts. Wenn Bimala, die als Frau eines Großgrundbesitzers ein privilegiertes, aber von der nichtfamiliären Außenwelt weitgehend isoliertes Leben führt, von den Geschichten und Liedern einer mythischen Vergangenheit singt, dann artikuliert sie damit eine Sehnsucht, die ihr eigenes Objekt nicht kennt.

Miss Gilby wiederum mag bei den Zeilen an ihre ferne Heimat denken, in die sie bald darauf, nach einem schockierenden Erlebnis, zurückkehrt. Die naiv-gutartige, zerbrechliche Musiklehrerin ist, in einem Film, der sehr direkt vom indischen Widerstand gegen den Kolonialismus erzählt, die einzige europäische Figur – ein erster Hinweis darauf, wie weit Ray sich in „Das Heim und die Welt“, unter dem Deckmantel einer konservativ anmutenden Form, von geläufigen Mustern entfernt.

Gesellschaftlicher Stillstand in schummrigen Innenräumen

In Europa verbindet man den Regisseur hauptsächlich mit der „Apu“-Trilogie und einem vom italienischen Neorealismus beeinflussten emotional-humanistischen Stil. In den späten 1950er- und 1960er-Jahren waren eine ganze Reihe von Ray-Filmen dieser Machart in den internationalen Arthouse-Kinos zu sehen. „Das Heim und die Welt“ zeigt eine komplett andere Facette seines vielseitigen Werks: analytischer, reduzierter, abgründiger. Die Handlung entfaltet sich hauptsächlich in schummrigen, wattiert anmutenden Innenräumen und entlang einer Reihe oft ausgesprochen ausgedehnter Gespräche. Menschen, die sich im Kerzenlicht einander öffnen, und doch nicht zueinander finden.

Die zunächst weitgehend statische Inszenierung ist einerseits folgerichtig, ein kinematografisches Äquivalent der gesellschaftlichen Stillstellung innerhalb eines kolonialen Systems; andererseits ist sie aber auch trügerisch, ein bloßes Oberflächenphänomen, unter dem im Lauf des Films ungeheure psychische Spannungen und soziale Verwerfungen eher erspürbar als sichtbar werden.

Somnambuler Ex-Revolutionär trifft halbseidenen Revoluzzer

In Gang gesetzt wird die Handlung durch das Auftauchen von Sandip, eines Jugendfreunds von Bimalas Gatten Nikhil. Beide Männer waren einst von einem revolutionären Furor beseelt, der sich gleichermaßen gegen die Fremdherrschaft wie gegen die Fesseln der Tradition richtet. Während der blasse, wie somnambul durchs Leben driftende Nikhil zwar seine Ideale bewahrt, aber sich gleichzeitig in die innere Emigration zurückgezogen hat und nach außen hin ein konventionelles Leben führt, scheint Sandip den Kampf angenommen zu haben: Als Anführer einer antikolonialen Widerstandsbewegung hat er es zu Prominenz gebracht und bittet nun seinen alten Bekannten, ihm auf seinem Gut Unterschlupf zu gewähren. Vom Auftreten her ist er freilich kein versponnener Revoluzzer, sondern eher ein römischer Imperator, allerdings ein etwas halbseidener (vielleicht: ein spätrömischer). Die vollbärtige Virilität kann leicht in herrischen Machismo umschlagen und verbirgt gleichzeitig eine neurotische Selbstunsicherheit.

Auch politisch sind die Fronten keineswegs so klar festgelegt, wie die narrative Ausgangssituation erwarten lässt. Wenn Nikhil, in einem der wenigen Ausflüge ins Freie, die der Film unternimmt, über sein Landgut reitet, dann übernimmt er, mit seinem Tropenhelm und seiner westlichen Kleidung, unzweifelhaft die Attitüde des Kolonialherrn. Gerade diese Perspektive des Ausländers im eigenen Land erlaubt es ihm jedoch, die ökonomischen Machtverhältnisse um ihn herum realistisch einzuschätzen und zu erkennen, dass Sandips Taktik einer nationalistischen Wirtschaftspolitik letztlich weniger den Engländern als der verarmten Landbevölkerung schaden wird.

Verliebt in die Strahlkraft des Politikers

Bimala wiederum, die seit ihrer Hochzeit, gemäß alter Sitte, kaum einen anderen Mann als Nikhil zu Gesicht bekommen hatte, macht, auf Nikhils Drängen hin, die Bekanntschaft von Sandip. Als ihr Blick das erste Mal auf ihn fällt, bleibt sie selbst noch unsichtbar: Versteckt hinter einer Bastmatte, deren Musterung sich auf ihre gebannten Gesichtszüge abbildet, verfolgt sie eine seiner Agitationsreden. Der Schlachtruf „Heil Vaterland“, den Sandip unters Volk bringt, erhält in Bimalas Ohren und später in ihrem Mund eine neue Bedeutungsdimension, wird zum Zeichen ihrer erstarkenden Selbstbestimmung und auch zu einem erotischen Versprechen. So gesehen beruht Bimalas Faszination für Sandip von Anfang an auf einer Fehlidentifikation: Sie verliebt sich nicht in einen Mann, sondern in einen Politiker und übersetzt Worte, die sich an eine Allgemeinheit richten, in ein intimes Bekenntnis.

Man könnte meinen, in dieser Szene sei auch das Thema des Films gesetzt: der weibliche Blick auf historische Prozesse, die im Allgemeinen auf die heroischen Taten großer Männer reduziert werden. In einer bloßen Blickumkehr geht „Das Heim und die Welt“ allerdings keineswegs auf. Vielmehr geht es um Begegnungen auf Augenhöhe: Ray entwirft die Tragödie dreier Menschen, die trotz besten Willens aneinander verzweifeln. Das Entscheidende an der Anordnung ist die Dreieckskonstellation: Alle Versuche, eine der drei Perspektiven gegen die beiden anderen auszuspielen, laufen ins Leere. Der Film lässt sich weder auf Geschlechterpolitik (eine Frau zwischen zwei falschen männlichen Alternativen) reduzieren, noch auf ein Eifersuchtsdrama (das einsetzt, sobald Bimala und Sandip sich das erste Mal tatsächlich von Angesicht zu Angesicht gegenübertreten), und auch nicht auf die Opposition historischer Kräfteverhältnisse (hier die revolutionär gesinnten Sandip und Bimala, da der konfliktscheue Nikhil). Die Dreiheit ist dem Film konstitutiv, sie lässt sich nicht in einen Dualismus überführen.

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