Experimentalfilm | Deutschland 2017 | 98 Minuten

Regie: Helena Wittmann

Nach gemeinsam verbrachten Tagen an der Nordseeküste trennen sich zwei Freundinnen; die eine kehrt nach Argentinien zurück, die andere bleibt allein und macht sich schließlich auf eine Seereise über den Atlantik. Ein entschleunigter, sich narrativen Mustern verweigernder Film, der sich als „Reisefilm“ nur notdürftig einem Genre zuschlagen lässt, da er sich vor allem in die Textur von Landschaften und Wellen versenkt. Lose den „driftenden“ Bewegungen einer Protagonistin folgend, ist er eine meditative Erkundung von Orten und vor allem des Meeres sowie des Zeitgefühls beim Reisen, zu der neben den Bildern vor allem auch bestechende Klangräume beitragen. - Sehenswert ab 16.
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Filmdaten

Originaltitel
DRIFT
Produktionsland
Deutschland
Produktionsjahr
2017
Produktionsfirma
Fuenferfilm
Regie
Helena Wittmann
Buch
Helena Wittmann · Theresa George
Kamera
Helena Wittmann
Musik
Nika Breithaupt
Schnitt
Helena Wittmann
Darsteller
Theresa George (Theresa) · Josefina Gill (Josefina)
Länge
98 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 16.
Genre
Experimentalfilm
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Zwei Frauen und das Meer. Eine betörende Erkundung von Orten und Seelenzuständen zwischen Nähe und Transzendenz.

Diskussion

Ein Ferienzimmer an der winterlichen Nordsee, zwei Frauen freuen sich über die freie Sicht im Apartment. Noch ist der Blick aufs Außen verschlossen, und auch von den beiden Frauen sieht man zunächst nicht mehr als Hinterköpfe und Rücken in dicken Anoraks. Auf dem Balkon sitzend, sprechen sie über Wolkenbewegungen und die Wetterprognosen für morgen.

Dass die Naturkräfte in Helena Wittmanns Film „Drift“ ein treibendes – oder vielmehr driftendes – Element sein werden, steht von Beginn an also buchstäblich im Raum. Bevor sich der Film diesen Elementen jedoch immer mehr annähert, in Aufnahmen von Schneegestöber, wogenden Gräsern, Sandverwehungen und Prielen im Watt, öffnen sich Eingänge und Fenster zum Wasser in seinen verschiedensten Aggregatzuständen. Ganz konkret etwa im Bild des bullaugenförmigen Deckenfensters der Wohnung, über dem mehr hör- als sichtbar ein Schneesturm tobt. Oder im übertragenen Sinn: in den mythologischen Geschichten aus Papua-Neuguinea und Nahuel Huapi, die die beiden Freundinnen an ihrem gemeinsamen Wochenende bei Fischbrötchen austauschen. Theresa (Theresa George, die Co-Autorin des Films) erzählt von der Entstehung von Land und Meer durch die Tötung eines paddelnden Riesenkrokodils, das vormals für die Vermischung von Schlamm und Wasser zuständig war, Josefina (Josefina Gill) teilt eine Geschichte aus dem südargentinischen Patagonien, die den Mythos von Loch Ness variiert.

Das Meer übernimmt die Erzählung

Der Film, der selbst viel auf Reisen war – nach seiner Premiere bei der „Woche der Kritik“ in Venedig 2017 lief er auf Festivals und Veranstaltungen unter anderen in Toronto, Marseille, London, New York, Duisburg, Wien und Mexico-Stadt –, beginnt sehr lose als eine Geschichte über zwei Frauen, die einen Ausflug ans Meer unternehmen, bevor sie getrennte Wege gehen. Die eine kehrt nach Argentinien zurück, die andere, Theresa, begibt sich für Feldforschungen zunächst auf eine Expedition in die Karibik. Während sie auf einem Segelschiff den Atlantischen Ozean überquert, driftet sie immer mehr aus dem Rahmen einer Figur im klassischen Sinne eines Erzählfilms – und damit allmählich auch aus dem Bild. Man sieht sie nun vor allem liegend und schlafend, der Kamera abgewandt oder durch Scheiben gefilmt. Dann ist sie ganz verschwunden und das Meer übernimmt die Erzählung.

Der rund dreißigminütige Mittelteil über den Atlantik ist ein Film für sich – auch wenn das Tolle an „Drift“ genau darin besteht, dass diese Passage da steht, wo sie steht, und eben auch das ist: eine Passage. Das Bild ist jetzt nur noch Wasser, Welle, Licht und Horizont. Man kann sich verlieren in seinen unendlichen Texturen, Bewegungen und Farben. Mal schimmert das Meer schwarz und ölig, mal leuchtet es in den vielfältigsten Blautönen, mal schaukelt und schäumt es, dann wieder wogt es als eine homogene, wie glattgestrichene Fläche.

Ein unendlicher, zeitlich entkoppelter Raum

Wittmanns „Seestücke“ oder bewegte Stillleben sind natürlich immer auch Projektionsflächen und Spiegel. Wobei „Drift“ weniger an Metaphern gelegen ist als an einer offenen Einladung zu einer ästhetischen und kontemplativen Erfahrung: das Meer als unendlicher, aus der Zeitwahrnehmung entkoppelter Raum – auch als ein Raum, der eine Distanz nachempfindet (die durch den Atlantik getrennten Freundinnen, vielleicht auch Geliebten) –, das Meer als Bewegungsstudie und Klangraum (die tiefen, bestechenden Sounds hat Nika Breithaupt gestaltet), das Meer als Struktur, als abstrakt-expressionistisches „allover“.

„Drift“ steht einerseits im entfernten Verwandtschaftsverhältnis zum experimentellen Dokumentarfilm, wie ihn etwa das Ethnography Sensory Lab in Harvard verfolgt – ethnografische Interessen, verbunden mit Immersion, Kontemplation und nicht-menschlichen Perspektiven –; andererseits stellt er sich auch ganz explizit in die Nachfolge des strukturalistischen Films; das Ende ist ein direktes Zitat aus Michael Snows bahnbrechendem Experimentalfilm „Wavelength“ (1967).

Fluide Übergänge zwischen Mensch und Natur

In ihrem Buch „Das optische Unbewusste“ beschreibt die Kunsttheoretikerin Rosalind Krauss, wie das Meer als „etwas vollkommen Isoliertes erscheint, losgelöst von der Gesellschaft, selbstgenügsam in sich geschlossen“. Sie spricht auch von einer „visuellen Fülle“ und „einer grenzenlosen Weite und Gleichförmigkeit, die sich ins Nichts ausbreitet“. Das eigentlich Faszinierende an „Drift“ ist nun, mit welcher Durchlässigkeit – und gleichzeitigen Präzision – der Film all diese Ideen in sich aufnimmt, und dabei etwas völlig Eigenständiges hervorbringt. Mit welcher Leichtigkeit der Film Beziehungen knüpft zwischen Mensch und Natur, zwischen den Landschaften weißer Bettlaken und den Wellen des Ozeans, zwischen der „angeschnittenen“ Friedenstaube von Picasso über einem Bett und Vogelschwärmen am Himmel, zwischen den Bewegungen von Ameisen auf einem Baum und den Bewegungen der Gezeiten.

Vor allem das Wasser zeigt sich in seinen unendlichen Erscheinungsformen – als elementare Gewalt, als für den Menschen aufbereiteter Stoff in einer Duschrinne, einem türkis leuchtenden Swimmingpool. Oder auf einer ans Fenster gepinnten Fotografie in einer Hamburger Wohnung, die sich zu einem erneuten Raum öffnet, in den sich hineindriften lässt.

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