Die Sehnsucht der Schwestern Gusmao

Literaturverfilmung | Brasilien/Deutschland 2019 | 140 Minuten

Regie: Karim Aïnouz

Zwei ungleiche Schwestern begegnen im Rio de Janeiro der 1950er-Jahre ihrem streng konservativen Elternhaus mit einer besonderen Form der Komplizenschaft. Als das Leben sie trennt und der Vater ohne ihr Wissen ein Wiedersehen verhindert, versuchen sie unabhängig voneinander ihren Platz in der Gesellschaft zu finden. Eine in satten, pulsierenden Farben inszenierte Literaturverfilmung, die eindringlich von weiblichen Handlungsmöglichkeiten und -unmöglichkeiten in einer patriarchalen Gesellschaft erzählt. Der Film orientiert sich an klassischen Melodramen, unterzieht das Genre aber einer Neuinterpretation durch körperliche Nähe und Wahrnehmungsintensitäten. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
A VIDA INVISÍVEL D'EURIDICE GUSMÃO | LA VIE INVISIBLE D'EURIDICE GUSMAO
Produktionsland
Brasilien/Deutschland
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Pola Pandora Filmprod./RT Features
Regie
Karim Aïnouz
Buch
Murilo Hauser
Kamera
Hélène Louvart
Musik
Benedikt Schiefer
Schnitt
Heike Parplies
Darsteller
Carol Duarte (Eurídice Gusmão) · Júlia Stockler (Guida Gusmão) · Gregório Duvivier (Antenor) · Bárbara Santos (Filomena) · Flávia Gusmão (Ana Gusmão)
Länge
140 Minuten
Kinostart
26.12.2019
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Literaturverfilmung | Melodram
Externe Links
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Heimkino

Verleih DVD
EuroVideo/good!movies
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In pulsierenden Farben inszeniertes Melodram über zwei brasilianische Schwestern, die in den 1950er-Jahren getrennt werden und sich unabhängig voneinander in einer patriarchalen Gesellschaft behaupten müssen.

Diskussion

Der Heimweg der beiden Schwestern führt durch den tropischen Wald. Üppige Fauna, feuchtes Moos, ein Wasserfall, kreischende Kapuzineraffen klettern über Bäume, Vögel schreien, ein Gewitter zieht auf. Die Wege von Eurídice und Guida verlieren sich allmählich im dichten Grün; verbunden sind sie jetzt nur noch durch ihre Stimmen: „Eurídice!“ – „Guida!“

Die fast schon verzweifelten Rufe nach der abwesenden Schwester, die in der visuell und akustisch berauschenden Exposition von „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ einen dramatischen Grundton einführen, hallen auch dann noch durch den Film, wenn Eurídice und Guida längst wirklich getrennt sind. Zu hören sind sie in den unzähligen Briefen, die sie sich über die Jahre gegenseitig schreiben: in einen ungewissen Raum hinein, ohne Aussicht auf Antwort. Zu hören sind sie auch in der Stille wie im Trubel ihres Alltags. Wie ein Schatten liegt der Name der jeweils anderen auf ihren Gesichtern: „Eurídice!“ – „Guida!“

Ein „tropisches“ Melodram

Der von dem Roman „Die vielen Talente der Schwestern Gusmão“ von Martha Batalha inspirierte Film „Die Sehnsucht der Schwestern Gusmao“ spielt in den 1950er-Jahren – im Kino ist es das „ideale“ Jahrzehnt fürs Melodram. Die patriarchalen Strukturen sind festgefügt wie durch Zement; die Befreiungsbewegungen der späten 1960er-Jahre liegen in weiter Ferne. Vor diesem Hintergrund erzählt das zeitweilig als „weepie“ verschriene Genre von Ehegefängnissen, Klassenschranken und erstickten Wünschen. Aber eben auch von brennenden Sehnsüchten, heimlichem Begehren oder einer eher still sich artikulierenden weiblichen Widerstandskraft.

Der brasilianisch-algerische Filmemacher Karim Aïnouz schließt in seinem Werk an die großen Filmemacher des Melodrams an – an Douglas Sirk, Rainer Werner Fassbinder, auch Pedro Almodóvar – und macht doch etwas absolut Eigenständiges. Er selbst nennt es ein „tropisches Melodram“.

Die Geschichte der Schwestern Gusmão beginnt im katholischen Rio de Janeiro des Jahres 1950. Eurídice und Guida begegnen ihrem streng konservativen Elternhaus mit einer besonderen Form der Vertrautheit und Komplizenschaft. Guida gesteht ihrer Schwester ihre romantischen Gefühle für einen griechischen Seemann, aber auch das Erwachen ihrer sexuellen Empfindungen; für Eurídice ist die ältere Guida wiederum eine Art Mentorin, die sie in ihrem Plan bestärkt, ein Klavierstudium in Wien anzufangen. „Ich hätte dich einschließen und den Schlüssel schlucken sollen“, schreibt Eurídice wenig später in ihrem ersten Brief. Als Guida mit ihrer Liebe eines Nachts durchbrennt, fühlt sie sich im Stich gelassen. Dass die Schwester kurz danach schwanger zurückkehrt und vom Vater des Hauses verwiesen wird, erfährt sie nie – ebenso wenig, dass Guida wie sie ebenfalls in Rio lebt.

Die Schwestern behaupten ihren Platz

Aïnouz erzählt, wie die beiden voneinander getrennt lebenden Schwestern mit ihren Wünschen ringen und wie sie trotz der Beschränkungen, denen sie als Frauen ausgesetzt sind, ihren Platz behaupten. Eurídice heiratet den Sohn eines Geschäftspartners des Vaters, hält aber weiter an ihrem Traum fest, sich am Wiener Konservatorium zu bewerben. Guida zieht in wirtschaftlicher Not ihren kleinen Sohn auf und schließt sich mit der alleinstehenden Nachbarin Filomena zu einer Wahlfamilie zusammen.

Am Weihnachtsabend kommt es in einem Restaurant einmal fast zu einer Begegnung. Eurídice ist mit ihrer Familie und dem Vater zum Essen da, während Guida und Filomena an der Tür abgewiesen werden. Ein Aquarium trennt auf fatale Weise die Sichtachsen der beiden, wobei die fantastische Kamera von Hélene Louvart beide „Räume“ gleichermaßen in Szene setzt. Die Schwestern werden auf dramatische Weise aufeinander zugetrieben – ganz im Wissen ihrer Verfehlung.

„Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ ist ein Film, der sich zu den großen Gefühlen bekennt. Aber er kennt eben nicht nur Tränen, sondern ebenso auch Schweiß, Blut – und indirekt: Sperma. Aïnouz führt in das Melodram eine physische Sensibilität und Wucht ein, die das Feld der sexuellen Gewalt sehr unmittelbar und direkt anspricht – etwa in der sehr grausamen, aber auch extrem differenziert ausformulierten Hochzeitsnacht-Szene. Es gibt zwar auch bei Aïnouz die eher „genretypischen“ Einrahmungen durch Spiegel und Türrahmen, doch stets im Verbund mit einer Nähe zu den Figuren – ihren Gesichtern und ihren Körpern. Mit „tropisch“ sind daher nicht nur die glühenden satten Farben, die pulsierenden Rhythmen und exzessiven Gefühlsregungen gemeint, sondern auch eine erhöhte Wahrnehmung für alles Physische. Trotz der Elemente des Ausstattungskinos bewahrt der Film stets eine rohe Energie.

Eine Feier weiblicher Widerstandskraft und Solidarität

„Die Sehnsucht der Schwestern Gusmão“ ist aber auch eine Feier weiblicher Widerstandskraft und Solidarität. „Nicht Blut verbindet eine Familie, sondern Liebe“, formuliert es Guida einmal. Aïnouz öffnet den Figuren die Tür aus den Familienhöllen und Ehegefängnissen – ob sie den Schritt wagen, ist eine andere Frage. Die Architektur des „tropischen Melodrams“ scheint weniger starr zu sein, die Konturen seiner Räume sind weich und formbar.

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