Drama | Deutschland/Belgien/Kosovo 2019 | 121 Minuten

Regie: Visar Morina

Ein Medizintechniker, der vor Jahrzehnten aus dem Kosovo nach Deutschland floh, wo er eine Familie gegründet und eine neue Heimat gefunden hat, fühlt sich zunehmend diskriminiert und ausgegrenzt. Oder bildet er sich das nur ein? Mit dieser Frage spielt das vielschichtige Drama virtuos und sticht damit mitten in gegenwärtige Debatten um alltäglichen und strukturellen Rassismus. Der paranoiahafte Film über einen in seinem Selbstbild erschütterten Mann kreist um diffuse Schuldgefühle und verharrt in einer nicht leicht auszuhaltenden Unbestimmtheit, die zu eigener Gedanken- und Bewertungsarbeit zwingt. - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
EXIL
Produktionsland
Deutschland/Belgien/Kosovo
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
Komplizen Film
Regie
Visar Morina
Buch
Visar Morina
Kamera
Matteo Cocco
Musik
Benedikt Schiefer
Schnitt
Laura Lauzemis · Hansjörg Weissbrich · Visar Morina
Darsteller
Mišel Matičević (Xhafer) · Sandra Hüller (Nora) · Rainer Bock (Urs) · Thomas Mraz (Manfred) · Flonja Kodheli (Hatiqe)
Länge
121 Minuten
Kinostart
20.08.2020
Fsk
ab 12; f
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Drama
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IMDb | TMDB

Heimkino

Verleih DVD
Alamode (16:9, 1.78:1, DD5.1 dt.)
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Vielschichtiges Drama um einen aus dem Kosovo stammenden Mann, der in Deutschland eine Familie gegründet und eine neue Heimat gefunden hat, sich aber zunehmend diskriminiert und ausgegrenzt fühlt.

Diskussion

Um einen Fall von Paranoia handelt es sich in „Exil“ jedenfalls nicht. Denn der Briefkasten voller toter Ratten, den die Töchter des Familienvaters Xhafer entdecken, oder der Kinderwagen, der ein paar Tage früher im Garten plötzlich in Brand gesetzt wurde, sind keine Einbildung. Andererseits ist in „Exil“ ziemlich früh klar, dass Xhafer zwar ein zärtlicher Familienvater ist, aber auch hochgradig nervös. Seine Umgebung erscheint ihm als ein bedrohlicher Schauplatz, als vermintes Terrain und Gefängnis. Gegenüber Kollegen verhält er sich unhöflich und ungerecht, mitunter auch extrem aggressiv. Seine Frau macht ihm deshalb Vorwürfe; er sei auf seine „ach so benachteiligte Seele“ fixiert und unfähig, den Standpunkt anderer einzunehmen. Xhafer macht es, vorsichtig ausgedrückt, sich selbst und anderen nicht leicht. Nur: Warum ist das so?

Zwar arbeitet Xhafer als Medizintechniker in einem guten, sicheren Job. Doch er fühlt sich zunehmend ausgegrenzt. Er klagt darüber, dass Emails nicht angekommen seien; der Raumwechsel bei wichtigen Sitzungen sei ihm und nur ihm nicht mitgeteilt worden; er scheint zu glauben, dass die ganze Welt sich gegen ihn verschworen hat. Was daran ist Einbildung, wo handelt es sich um Tatsachen? Wird Xhafer, ein Deutscher, der aus Kosovo-Albanien stammt und Deutsch mit leichtem Akzent spricht, in seinem Job gemobbt oder am Ende gar rassistisch diskriminiert? Das ist die Frage, mit der „Exil“ virtuos und facettenreich spielt – und die er bis zum Ende nicht eindeutig entscheidet.

Was ist Einbildung, was Tatsache?

Wenn man „Exil“ des Regisseurs Visar Morina auf einen einzigen Begriff bringen möchte, dann muss man wohl am ehesten von einem Paranoia-Thriller sprechen. Wie bei den großen Vorbildern des Genres aus der New Hollywood-Ära, etwa Coppolas „Der Dialog“, bleibt lange im Unklaren, was man als bare Münze nehmen kann, was sich als Einbildung entpuppt und was als Tatsache.

Zumindest kann kein Zweifel daran bestehen, dass Xhafer in keinem guten Umfeld arbeitet und dass der Ton unter den Mitarbeitern oft gereizt ist. Besonders mit seinem unmittelbaren Kollegen Urs scheint kein normaler Austausch möglich zu sein, weil die Kommunikation offen aggressiv und von gegenseitigem Beleidigtsein geprägt ist, aber auch von unausgesprochener Konkurrenz um die Gunst der Vorgesetzten. Von denen erfährt Xhafer aber auch dann keine Unterstützung oder wenigstens Verständnis, als er sich über die vermeintlich ungerechte Behandlung beschwert.

Subtil ins Fantastische überhöht

Durchaus gekonnt setzt Morina verschiedene filmische Mittel ein, um die Film-Realität immer wieder subtil ins Fantastische zu überhöhen. Die Kamera von Matteo Cocco begleitet Xhafer, zeigt sein Gesicht in nahen oder halbnahen Aufnahmen und verkleinert die Räume selbst im Freien ins Enge, Klaustrophobische. Auch der Einsatz der Soundeffekte überzeugt, während die teilweise abstrakte Score-Musik von Benedikt Schiefer oft unnötig plakativ eingesetzt wird. Das Ensemble spielt betont unterschiedlich expressiv. Während Sandra Hüller als Ehefrau ihrem Mann aktiv entgegentritt und herausfordert, gestaltet Rainer Bock den Arbeitskollegen Urs als passiv-aggressive, gelegentlich auch süffisante Figur, deren Abgründe sich erst im Laufe des Films andeuten. Hauptdarsteller Mišel Maticevic spielt Xhafer hingegen ausdruckslos; gleichzeitig ist aber immer spürbar, dass hier einer vor lauter innerem Druck kurz vorm Platzen steht.

Vielleicht übertreibt Xhafer die Dinge? Vielleicht fehlt ihm selbst eine elementare Empathie? Auch seine Ehefrau stößt an Grenzen, als Xhafers berufliche Probleme zunehmend das Familienleben belasten. Sie findet, dass ihr Ehemann übers Ziel hinausschießt, wenn er von „Rassismus“ spricht.

Wer bestimmt, ob jemand ein Opfer ist?

Die Ursachen für alles könnten in einem früh erlittenen Trauma liegen, denn Xhafer hat den jugoslawischen Bürgerkrieg durchlitten. Wer weiß, was ihm dort widerfahren ist? Doch selbst, wenn man das wüsste: Was könnte das entschuldigen oder erklären? Mit all diesen Fragen sticht „Exil“ mitten in die Gefühls- und Empfindlichkeitsblasen der gegenwärtigen Debatten um alltäglichen und strukturellen Rassismus. Denn dass das Opfer immer im Recht und nie rechenschaftspflichtig ist, scheint in den derzeitigen Diskursen über Mobbing, Belästigung und Diskriminierung ausgemacht zu sein. Doch wer bestimmt, wann jemand überhaupt Opfer ist? Wo man überhaupt von Fehlverhalten oder Schlimmerem sprechen kann und nicht etwa um legitime Kritik an schwachen Leistungen? Das ist weit weniger klar.

Dieser Raum diffuser Unklarheiten – unklar nicht über die Tatsache des Leidens, aber sehr wohl über den Anlass und verschiedene Wahrnehmungen – ist der Schauplatz von „Exil“. In einigen Szenen und Dialogen mokiert sich der Film über die gönnerhafte Attitüde, mit der Mehrheitsdeutsche Minderheiten gegenüber Anteilnahme und Interesse heucheln und vermeintlich humane Sprechweisen einüben, die in ihrer Überbetonung aber erst recht ausgrenzen. Deutschland, so hält Xhafer seiner Frau entgegen, sei ein „möchtegern-kultiviertes, zutiefst verlogenes Land“.

Weil der Film keine klare Position bezieht und eine Hauptfigur zeigt, die keineswegs auf Anhieb liebenswert ist, sondern „schwierig“, die sich mitunter offenkundig falsch verhält, krass überreagiert, seine Gattin mit einer Putzfrau betrügt und auch sonst Dinge tut, die ihn eher nicht sympathisch machen, zwingt die Inszenierung das Publikum zur eigenen Gedanken- und Bewertungsarbeit und der Überprüfung der eigenen Position.

Die Perspektiven liegen auf dem Tisch

„Exil“ ist nun aber kein soziologischer Filmessay über Rassismus im Deutschland und auch kein Dokumentarfilm, sondern fiktionales Kino. Als solches hat der Film einige Probleme. Denn weder ist er wirklich spannend – nach 30 Minuten liegen alle Perspektiven und Argumente auf dem Tisch – noch wartet er mit Überraschungen und plötzlichen Wendungen oder anderen dramaturgischen Kniffen auf. Lieber zelebriert „Exil“ genüsslich die Redundanz von Xhafers Erleben und die allmähliche Eskalation seiner Situation.

Auch macht sich zunehmend ein diffuses Schuldgefühl bemerkbar, ohne dass nahegelegt wird, wer sich aus welchem Gründen wem gegenüber schuldig zu fühlen habe. Xhafer gegenüber seiner Frau, seiner Geliebten, seiner Heimat, gegenüber Urs oder allen Kollegen? Oder umgekehrt diese alle gegenüber Xhafer? Oder gar das Publikum gegenüber Xhafer, weil es ihn nicht versteht, nicht würdigt oder mag? Oder die Menschheit für alles bislang begangene Unrecht? Geht es um ein metaphysisches Schuldgefühl, oder gar um Erbsünde?

Das Scheitern von Kommunikation

Möglich, dass genau diese Unsicherheit das Ziel der Inszenierung ist. Vielleicht sind Anklänge an die Filme von Michael Haneke oder Ruben Östlund durchaus gewollt. Doch im Gegensatz zu jenen Filmen fehlt „Exil“ sowohl eine wirklich scharfe Gesellschaftsdiagnose wie auch filmische Perfektion. So bleibt die eindrucksvolle Geschichte eines in seinem Selbstbild erschütterten Mannes. Sie speist Debatten um „toxische Männlichkeit“, den „gestressten Mann“, aber auch um die „neue Sensibilität“. Etwas mehr Mut zur Parteinahme oder mehr Entschiedenheit hätte „Exil“ zumindest am Ende gutgetan, anstelle des diffusen Ausplätscherns der zuvor recht dichten Geschichte. Die Feststellung, alles liege doch im Auge des Betrachters, ist nur eine Ausrede für Unentschiedenheit. Wie die Vorwürfe gegen Xhafer steht am Ende vielleicht der ganze Film im leeren Raum – weil das Scheitern der Verständigung selbst unverständlich kommuniziert wird.

 

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