Drama | Mexiko/USA 2019 | 105 Minuten

Regie: Fernando Frias de la Parra

Ein junger Mexikaner muss als Gang-Mitglied vor Drogenkartellen in die USA fliehen. Orientierungslos driftet er durch New York City. Er vermisst seine Freunde und als begeisterter Tänzer vor allem die Cumbia-Musik seiner Heimat. Hin- und hergerissen zwischen zwei Kulturen sucht er nach einer eigenen Identität. Ein Migrationsdrama mit starken Einzelszenen, aber einer etwas gleichförmigen Dramaturgie. Der Film überzeugt im Zwischenmenschlichen, bleibt aber auf der Makro-Ebene zu vage. - Ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
YA NO ESTOY AQUI
Produktionsland
Mexiko/USA
Produktionsjahr
2019
Produktionsfirma
PPW Films/Panorama Global
Regie
Fernando Frias de la Parra
Buch
Fernando Frias de la Parra
Kamera
Damián García
Schnitt
Yibran Asuad
Darsteller
Juan Daniel García Treviño (Ulises Sampiero) · Xueming Angelina Chen (Lin) · Jonathan Fernando Espinoza Gamez (Jeremy) · Gilberto Rivera (Gilberto) · Kevin Bello (Giovanni)
Länge
105 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Ab 14.
Genre
Drama
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Drama um einen 17-jährigen mexikanischen Jungen, der sich gezwungen sieht, in die USA zu emigrieren, und dort mit dem Gefühl von Fremdheit und Vereinsamung kämpft.

Diskussion

Zwei Teenager, ein Junge und ein Mädchen, sitzen auf einem Hausdach über New York. Er spricht kein Englisch, sie kein Spanisch, und so reden sie hilflos aneinander vorbei. „Ich verstehe dich nicht“, erklärt sie. Er erwidert: „Wir sitzen im selben Boot, ich verstehe dich auch nicht.“ So finden sie zumindest im Nicht-Verstehen zusammen. Plötzlich rauscht eine Bahn vorbei und erlöst sie vom Zwang der Sprache. Dann eine weitere. Schweigend sitzen sie da, während der Lärm an ihnen vorbeizieht. Er raucht eine Zigarette, beide lächeln. Eine der schönsten Szenen aus „I’m No Longer Here“ von Fernando Frias. Ein Film, der seine Figuren immer wieder trennt und zusammenführt, der abtastet, was die Menschen verbindet und einander fremd macht.

„Je langsamer, desto mehr Gefühl“

Der Junge auf dem Dach heißt Ulises Sampiero, gespielt von Juan Daniel Garcia Treviño. Wie der griechische Mythenheld, mit dem er seinen Namen teilt, geht er auf großer Irrfahrt. Eigentlich lebt er in der Stadt Monterrey im Nordosten Mexikos, meistens lungert er mit seinen Freunden und Gang-Mitgliedern herum. Sie alle sind Teil der Cholobianos-Subkultur, tragen überdimensionierte Kleidung und Haare, die oben wirr hinaufragen und an den Seiten glatt herunterhängen. Auf Partys tanzen sie wild und ausdruckstark zu den Klängen von verlangsamter Cumbia-Musik. Der kolumbianische Paartanz wird bunt mit verschiedensten Einflüssen vermengt. Warum sie die Musik verlangsamen? „Je langsamer, desto mehr Gefühl.“ Ein Motto, dass sich auch der Film mit seinen langen, ruhigen Einstellungen immer wieder zu eigen macht.

Ulises gerät durch einen dummen Zufall ins Fadenkreuz der lokalen Kartelle und muss in die USA fliehen. Er hält sich mit Gelegenheitsarbeiten über Wasser, doch ohne die Landessprache zu kennen, findet er nirgendwo Anschluss. Als auch noch ein Streit mit seinen Mitbewohnern eskaliert – es geht um seine Haare und seine Musik – steht er ganz allein da. Unterschlupf findet er bei Lin (Xueming Angelina Chen), dem Mädchen auf dem Dach.

Verloren zwischen zwei Welten

Der junge Mexikaner pendelt in seinen Gedanken zwischen Mexiko und den USA. Seine Erinnerungen sind gleichzeitig erzählerische Flashbacks. So werden Szene für Szene zwei verschiedene Lebenswirklichkeiten nebeneinandergestellt. In eine passt Ulises, in der anderen scheint er stets fehl am Platz. Möglichkeiten, mit der Heimat zu kommunizieren, sind für ihn rar. Als er von einer Telefonzelle aus eine lokale Radiostation anruft, um seine Freunde zu grüßen, wird er von einer Regierungsansage unterbrochen. Propaganda trennt die Menschen.

Mit Lin verständigt er sich mit jedem Mittel, das zur Verfügung steht. Mit den Fingern malen sie einander das Alter in die Hand – er ist 17, sie ist 16. Mit Bergen von Salzpäckchen aus einem Fastfood-Resteraunt malt Ulises das Logo seiner Gang, einen Stern. Mit dem Computer in einer Bibliothek kann er übersetzen und Videos aus Mexiko zeigen. Ganz und gar verständlich macht er sich allerdings nur durch das Tanzen. Sein MP3-Player ist ihm portable Heimat. Wenn er sich bewegt, wie ein Derwisch rotiert und hüpft und seinen Körper verformt, ist er ein anderer, ein freierer Mensch. Will er in New York tanzen, wird er sofort verjagt. Ihm bleibt nur die Erinnerung, doch selbst die verschwindet: Jede neue Rückblende zu einem Abend mit seinen Freunden wird düsterer. Irgendwann ist ein Großteil des Bildes schwarz, und es bleiben nur ferne Gestalten, die sich durch ein kleines Quadrat aus Licht bewegen.

Überall sind Grenzen – nicht zuletzt in den Köpfen

Seine Beziehung zu Lin ist seine Beziehung zu den USA. Tastend, sehnsüchtig, misstrauisch. Einmal liegt er im Bett, doch nur ein Drittel der Einstellung ist für ihn vorgesehen, den Rest nimmt sich Lin. Das junge Mädchen türmt über ihm. Ihre Zuneigung hat etwas Aufdringliches. Sie will helfen. Als Tochter eines chinesischen Einwanderers erkennt sie in ihm einen weiteren Fremden unter Fremden. Zugleich will sie aber auch erobern und vorführen, als hätte sie ein wildes Tier dressiert.

Die Bilder von „I’m no Longer Here“ werden immer wieder von starren Linien unterteilt. Mal halbieren Bahngleise das Bild vertikal, mal wird es von hohen Betonmauern zerschnitten. Überall Grenzen, so wie jene, die Ulises – mühsam in einem Reisebus versteckt – überwunden hat. Doch auch in New York bleibt sie bei ihm, stellt sich zwischen ihn und die Menschen. Sie verläuft durch die Köpfe, verwandelt sich in Nachtclub-Türen oder Polizisten.

Das also ist „I’m no Longer Here“: Ein Film über die fehlerbehaftete Kommunikation zwischen Menschen, die auch die fehlerhafte Kommunikation zwischen Ländern meint. Ein Film über die Omnipräsenz von Grenzen. Eine Ansammlung großer Symbole und Einsamkeitsbilder, aus der vor allem Hilflosigkeit spricht. Immer wieder gerät Ulises zwischen Demonstranten oder Aufständische, erlebt Unruhen und Polizeigewalt, blickt auf große Wahlplakate – doch all das scheint ihn kaum zu betreffen. Er steht neben den Dingen; sie passieren, aber nicht ihm. So ähnlich ist es mit dem Film, der immer eher beobachtet als den Figuren und Ereignissen wirklich nahe zu kommen. Der (bewusst) emotional auf Distanz geht. Einmal sitzt Ulises in einer Bar mit runden Fenstern. In der Dunkelheit hängen diese Scheiben wie Blasen in der Luft, jede kleiner als die nächste, wie die Empfangsbalken auf Handys. Aber wie raus aus den Blasen und wie ihren Schutz behalten für alle, die ihn nötig haben? Auch die Kamera muss aus ihrer Bubble kommen.

„I’m no Longer Here“ überrascht nicht unbedingt. Das Kino kennt schon so viele Einsamkeitsbilder und Tänze nur mit dem eigenen Schatten als Partner. Frias bleibt zu nah am zeitgenössischen Festival-Standard, zu vage mit Hinblick auf große Fragen und nicht ausreichend granular bei kleinen. Orientiert sich an Identitäten und Zugehörigkeiten, ohne sie unbedingt in weiteren Zusammenhängen zu sehen. Das Problem ist nicht, dass dem Film eine Botschaft fehlt, sondern das permanent eine behauptet wird, die nicht da ist. Wenn bestimmte (politische) Fragen an den Rand gedrängt werden, wieso sie dann nicht entweder in den Mittelpunkt stellen oder sie ganz ausblenden und so ihre Abwesenheit für sich sprechen lassen? So bleiben letztlich nur kleine Gesten, kleine Momente und ein zu kleiner Film.

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