Gleich in der ersten Szene ist auf dem Rücksitz eines Autos ein Paar Damenschuhe zu sehen, ein Absatz ist abgebrochen. Ein eigentümlich erotisches Bild, nicht zuletzt wegen des Fetischcharakters. Später, sehr viel später wird der Film die Vorgeschichte für dieses Malheur zeigen: Eine Frau geht rückwärts über Kopfsteinpflaster – bis sie umknickt und der Absatz bricht. Rückwärts? Was für ein Zufall, dass wie in Christopher Nolans „Tenet“ ein großer Teil der Bewegung rückwärts verläuft, einmal wird sogar explizit „Inception“ genannt, um bestimmte Sachverhalte zu erklären.
Moritz Bleibtreu, mit über 90 Rollen einer der beliebtesten Schauspieler Deutschlands, hat mit 49 Jahren seinen ersten Film inszeniert und huldigt seinen Vorbildern, nicht nur Nolan, sondern auch David Lynch und Quentin Tarantino. Es wird im Folgenden um Schlaflosigkeit gehen, um Träume, um den Schlaf als „zweites Leben“, wie es einmal wörtlich heißt, um die Wahrnehmung zwischen Traum und Realität, es werden Fachbegriffe wie „Begleitertraum“, „Klartraum“ und „Realitätscheck“ fallen. Bleibtreu wechselt beständig die Erzählebene, er wirft den Zuschauer in kurze Episoden, die sich wiederholen, unter Umständen mit anderen Ausgängen, mit Szenen, die sich als unwirklich entpuppen. Kein Film wie jeder andere.
Verwirrende Träume
Bleibtreu schrieb auch das Drehbuch, er erzählt die Geschichte des Sicherheitsmannes Hagen, der unter Schlaflosigkeit leidet. Immer wieder wacht er nachts schweißgebadet und verwirrt aus Kurzträumen auf: Hat er das gerade wirklich erlebt? Oder doch nur geträumt? Tagsüber ist er müde und ausgelaugt. „Hyposomnie“ nennt ein Arzt dieses Phänomen – die lebhaften Träume rauben Hagen die Energie für den Rest des Tages. Darunter leidet seine Ehe mit der Hautärztin Karoline sehr. Plötzlich taucht der Kleinkriminelle Niko (Jannis Niewöhner) immer öfter in Hagens Träumen auf: wie er in einer Bar mit der Kellnerin spricht, wie er mit seinem Bruder telefoniert, der ihn dringlich an eine Verabredung erinnert, wie er sich bei Karoline im Institut ein Tattoo entfernen lässt. Und dann mit ihr die Nacht verbringt. „Im Traum bedeutet der Tod immer einen Neuanfang“, heißt es einmal, und so ahnt man als Zuschauer, dass diese Dreiecksgeschichte nicht gut ausgehen kann.
Sind Hagen und Niko etwa dieselbe Person? Bleibtreu liefert dafür einen Hinweis, wenn er in den Spiegel schaut und dort seinen Rivalen sieht – eine Idee, die aus „Lost Highway“ von David Lynch stammt, aber auch auf die Marx Brothers und „Duck Soup“ zurückgehen könnte. Als Zuschauer muss man sich darauf verlassen, was man sieht, und das weist in diesem Fall auf einen Identitätswechsel, den im Kino so beliebten „Bodyswitch“, hin. Doch sicher ist das nicht. „Cortex“ ist ein kryptischer Film, der sich der Erklärung entzieht. Fast hat man den Eindruck, als sei Bleibtreu das Spiel mit seinen Vorbildern, die Faszination der Bilder, die er zusammen mit seinem Kameramann Thomas W. Kiennast findet, wichtiger als die logische Stringenz seiner Geschichte. So sieht die Bar, die einmal eine Tankstelle war, aus wie ein Gemälde von Edward Hopper. Einmal erklärt ein Gangster, warum der „Kaffee Americano“ „Americano“ heißt – so wie John Travolta Samuel L. Jackson in „Pulp Fiction“ den „Royale with Cheese“ erklärt. Die nächtliche U-Bahnstation unter einer Eisenbahnbrücke könnte aus einem Film noir stammen, schräge oder hochkant gestellte Bilder untermauern diese Idee: Die Welt gerät aus den Fugen. Dazu passt auch das Sounddesign, das besonders zum Ende hin das Gefühl eines tosenden Zusammenbruchs vermittelt.
Der Film entzieht sich dem Betrachter
Doch je mehr man sich „Cortex“ beschreibend zu nähern versucht, desto mehr entzieht er sich dem Betrachter. Bleibtreu beherrscht die filmischen Mittel, er hat sich von seinen Vorbildern viel abgeschaut. Doch als Autor lässt er zu viele lose Enden fallen, seine Figuren sind nicht lebendig genug, als dass man mit ihnen mitfiebern könnte. Sein Film ist faszinierend anzuschauen, aber nicht spannend mitzuerleben. Man bleibt ratlos zurück und hat sich trotzdem gut unterhalten. Und das ist durchaus im Sinne des Regisseurs.
Lesen Sie auch:
Moritz Bleibtreu im Interview zu seinem Regiedebüt "Cortex"