Biopic | USA 2020 | 160 Minuten

Regie: Thomas Kail

Filmversion der originalen Broadway-Produktion des Musicals „Hamilton“ rund um den US-amerikanischen Gründervater, Staatstheoretiker und ersten Finanzminister Alexander Hamilton (1755/57-1804). Der Charakter der Bühnenfassung bleibt in der Aufzeichnung grundsätzlich erhalten, hebt die Theatralität aber durch ausgefeilte Kamera- und Montagearbeit weitgehend auf. Auch ohne den Live-Effekt vermittelt sich so die Brillanz von Musik, Texten, Darstellung und Choreographie, die einen erfrischend unkonventionellen Blick auf die Gründungsjahre der USA werfen. Dabei unterstreicht die mitreißende Dynamik des Musicals nonchalant die enorme Bedeutung von Einwanderern für die Herausbildung der amerikanischen Nation. (Nur Originalfassung ohne Untertitel) - Sehenswert ab 14.
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Filmdaten

Originaltitel
HAMILTON
Produktionsland
USA
Produktionsjahr
2020
Produktionsfirma
Walt Disney Pictures/5000 Broadway Prod./RadicalMedia
Regie
Thomas Kail
Buch
Lin-Manuel Miranda
Musik
Lin-Manuel Miranda
Schnitt
Jonah Moran
Darsteller
Lin-Manuel Miranda (Alexander Hamilton) · Phillipa Soo (Eliza Hamilton) · Leslie Odom jr. (Aaron Burr) · Renée Elise Goldsberry (Angelica Schuyler) · Christopher Jackson (George Washington)
Länge
160 Minuten
Kinostart
-
Pädagogische Empfehlung
- Sehenswert ab 14.
Genre
Biopic | Musical
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Filmversion einer Broadway-Produktion des Musicals "Hamilton" rund um den amerikanischen Gründervater, Staatstheoretiker und ersten US-Finanzminister Alexander Hamilton (1755/57-1804). Text und Musik stammen von Lin-Manuel Miranda, der auch die Hauptrolle spielt.

Diskussion

„Wie kann ein Bastard, Sohn einer Hure und eines Schotten, von der Vorsehung mitten in einem vergessenen Fleck in der Karibik abgesetzt, verarmt und in erbärmlichen Verhältnissen lebend, aufwachsen, um ein Held und Gelehrter zu werden?“ („How does a bastard, orphan, / son of a whore and a Scotsman, / dropped in the middle of a forgotten spot in the Caribbean by providence, impoverished, in squalor, / grow up to be a hero and a scholar?“) – Die Worte, mit denen das Musical „Hamilton“ einsetzt, klingen abschätzig, fassen aber lediglich ungeschönt zusammen, wie bescheiden das Leben seines Helden Alexander Hamilton seinen Anfang nahm: Fragwürdige Familienumstände, unglückliche Kindheit, so sehr zur lebenslangen Bedeutungslosigkeit vorgesehen, dass nicht einmal sein genaues Geburtsjahr übermittelt ist, dazu noch geboren auf einer Insel wie Nevis, im 18. Jahrhundert Zwischenstation für europäische Schiffe auf dem Weg zum amerikanischen Festland, heute Teil des Zwergstaates St. Kitts und Nevis.

Andererseits sind es aber auch optimale Voraussetzungen für die Aufstiegsstory eines mittellosen Migranten, der es durch Tüchtigkeit und harte Arbeit zum Kriegshelden, Staatsmann, Finanzminister der Vereinigten Staaten und Schöpfer des amerikanischen Bankensystems brachte. Und dem nur das letzte Quäntchen Glück fehlte, um Präsident zu werden und sich womöglich einen noch bedeutenderen Platz in den amerikanischen Geschichtsbüchern zu sichern.

Ein Musical, das zur Sensation wurde

Mit der Annäherung an die amerikanischen Gründerväter aus der Perspektive eines ihrer weniger bekannten Mitglieder schuf der 1980 geborene Lin-Manuel Miranda als Librettist, Komponist und Hauptdarsteller ein Musical, das seit seiner Premiere 2015 zur Sensation des englischsprachigen Musiktheaters avanciert ist. Nicht nur der Pulitzer-Preis und eine Rekordzahl an „Tony“- und anderen Theater-Auszeichnungen schlagen für „Hamilton“ zu Buche, sondern auch Kassenrekorde, die der Broadway-Inszenierung noch ein jahrelanges Weiterleben in Aussicht stellen. In der Mischung aus Rap-, R’n’B-, Jazz-, Pop- und traditionellen Showmelodien gehört die Partitur zu den anspruchsvollsten und überraschungsreichsten der Musical-Geschichte, was den Erfolg ebenso befeuert haben dürfte wie die frische Perspektive auf potenziell angestaubte Historie: Neben allem anderen verblüfft insbesondere die schiere Menge an geschichtlichen Informationen, die Miranda in die Verse der Songs gepackt hat.

Die Gründungsgeschichte der USA als Identifikationsraum für die vielfältige, multikulturelle Gesellschaft von heute

Und indem die wichtigen Rollen fast ausnahmslos mit afroamerikanischen sowie asiatisch- oder latino-stämmigen Darstellern besetzt wurden, erweitert „Hamilton“ auch noch nonchalant die Reichweite des US-Gründungsmythos: Amerikanische Politik im 18. und 19. Jahrhundert mag eine Sache weißer Männer gewesen sein, doch warum sollten sich Abkömmlinge der modernen multikulturellen Gesellschaft nicht mit diesem Teil der Geschichte identifizieren, nur weil sie den historischen Figuren vielleicht äußerlich nicht entsprechen?

Dass die Theater in New York durch die Corona-Pandemie geschlossen werden mussten und frühestens Anfang 2021 wieder öffnen können, hat den Bühnentriumph zwar vorläufig unterbrochen, aber auch den Weg zu einer Zweitauswertung geebnet: Disney+ hat eine bereits 2016 vorgenommene Aufzeichnung der Broadway-Version passend zum amerikanischen Unabhängigkeitstag zugänglich gemacht. Was nicht nur dem mit originellen Angeboten bislang knausenden Streamingdienst einen dringend benötigten „exklusiven Inhalt“ bescherte, sondern auch Zuschauern die Begegnung mit dem Musical ermöglicht, die bislang kaum Chancen hatten, dieses auf der Bühne zu erleben (also den meisten) – umso weniger in der Broadway-Originalbesetzung, in der unter anderem Miranda selbst die Rolle von Hamilton spielte.

Wie ein Migrant zur Stütze der jungen US-Gesellschaft wird

Als Sohn puertoricanischer Einwanderer liegt die Verbundenheit Lin-Manuel Mirandas mit dem ebenfalls aus der Karibik stammenden Alexander Hamilton nahe. Hamiltons Status als Migrant ist denn auch eines der zentralen Themen des Musicals. Immer wieder flammen Anfeindungen der bereits länger auf amerikanischem Boden Etablierten gegenüber Neuankömmlingen auf, doch hält das Musical dem die hohe Bedeutung der Eingewanderten für die amerikanische Nation entgegen: Wie hätte diese ohne deren Enthusiasmus überhaupt entstehen können? Wo älter Eingesessene im Streit mit der britischen Kolonialmacht um die Unabhängigkeit ihre eigenen Vorteile abwägen, verfechten Migranten wie Hamilton oder auch der französische Marquis de Lafayette, frei von solchen Rücksichtnahmen, die „uramerikanischen“ Freiheitsideale: „Immigrants – We get the job done!“

In dieser Lesart werden auch die bekannteren Figuren rund um die Unabhängigkeitserklärung und die Frühzeit der USA konsequent aus Hamiltons Perspektive dargestellt – inklusive manch subjektiver, historisch nicht belegter Überzeichnung: George Washington etwa als Vaterfigur für den ungestümen Jungspund, die diesem ihre Zweifel an der Führungsrolle sowohl im Unabhängigkeitskrieg als auch als Präsident anvertraut. Oder Thomas Jefferson als entschiedener, durchaus auch zu unsauberen Methoden greifender Gegner von Hamiltons Politik beim Aufbau des US-Finanzsystems oder dessen Ablehnung einer Unterstützung der Französischen Revolution. Als Hauptgegenspieler erscheint indes Aaron Burr, dessen Aufstieg parallel zu dem der Titelfigur des Musicals beschrieben wird, nur dass der ehrgeizige Emporkömmling immer einen Schritt hinter dem gleichaltrigen Hamilton zurückbleibt: Erst im Krieg, dann als Anwaltskollegen in New York, zuletzt in der Politik, wo Hamilton schließlich Burrs Präsidentschaftsambitionen zunichtemacht, was 1804 zum tödlichen Duell der beiden Männer führen wird.

Die Filmaufzeichnung erhält den Theater-Charakter, nutzt aber ambitioniert die Mobilität der Kamera

Es kommt der Aufzeichnung, die aus drei Aufführungen erstellt wurde, zugute, dass ihre Federführung Thomas Kail als Regisseur der Bühnenversion oblag. Der Theatercharakter bleibt dabei zwar einerseits erhalten, indem Bühne und Zuschauerraum stets präsent sind, Beifall und Verbeugen zum Film dazugehören und sogar die Pause zwischen den beiden Teilen des Musicals integriert bleibt (hier allerdings nur eine Minute dauert). Auf der anderen Seite gehen Kails formale Ambitionen bei dieser „Hamilton“-Version allerdings deutlich weiter, als es bei Aufzeichnungen von Theater-, Opern- oder Musicalinszenierungen sonst Usus ist. Nur selten verharrt die Kamera in der traditionellen Theaterblickrichtung starr und frontal, viel öfter bewegt sie sich inmitten der energetischen Choreographien von Andy Blankenbuehler und wird fast Teil des Reigens, zudem wird auch die Möglichkeit von Großaufnahmen bei Soloparts gekonnt genutzt.

So erschließt sich die elektrisierende Wirkung von „Hamilton“ mit ihren Wechseln von aggressiven Rap-Battles zu beschwingten Jazzstücken und ergreifenden Balladen mit amüsanten Intermezzi wie den Brit-Pop-Auftritten des englischen Königs George III. auf furiose Weise auch dem Nicht-Theaterzuschauer. Die Anspannung einer Live-Aufführung kann diese Fassung zwar nicht bieten, doch für den Moment bewahrt sie aufs Trefflichste die Magie einer einzigartigen Musical-Erfahrung. Mindestens bis zur Spielfilm-Adaption von „Hamilton“, zu der es in absehbarer Zeit unweigerlich kommen wird.

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